Der stille soziale Wandel

Von Daniela Kahls · 19.04.2012
Leben wie Gott in Frankreich, das können immer mehr Franzosen nicht mehr. Die Armut nimmt stetig zu, auch die Arbeitslosigkeit scheint unaufhörlich zu steigen. Hunderttausende können sich nur noch mit Hilfe von Suppenküchen und Lebensmittelgutscheinen ernähren.
Rund hundert Arbeitslose aus ganz Frankreich haben vor einigen Wochen das Nobelrestaurant Fouquets auf dem Champs-Elysée gestürmt. Sie rufen: von der Arbeitslosigkeit die Nase voll! Eine Interessenvertretung von Arbeitslosen hat diese Aktion organisiert. Sie dauert nur rund 15 Minuten, doch die Symbolik an diesem Ort des Luxus auf ihre Situation aufmerksam zu machen, ist diesem Mann wichtig:

"Das Fouquets ist ein Symbol. Als Sarkozy als Präsident gewählt war, hat er sich hier im Fouquets direkt nach seiner Wahl mit den Chefs der börsennotierten Unternehmen in Frankreich getroffen. Wir wollen hier deshalb hier zeigen, dass das französische Volk immer mehr leidet und gleichzeitig die Unternehmer immer mehr Geld verdienen."

Lautstark macht die kleine Gruppe von Demonstranten ihrem Ärger Luft. Dem Frust über ihre Arbeitslosigkeit und ihre Armut. Denn in Frankreich auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, das heißt automatisch in bitterer Armut leben zu müssen. So wie im Fall von Patricia Chardonneau. Die 50-jährige Innenarchitektin ist seit mehr als zwei Jahren arbeitslos. Früher hat sie sehr gut verdient. Doch heute weiß sie manchmal nicht, wovon sie sich und ihre 12-jährige Tochter ernähren soll. Patricia ist deshalb auf soziale Supermärkte und Lebensmittelmarken angewiesen. Eine schwierige und ungewohnte Situation für die gebildete Patricia, die noch vor kurzem für die Dekoration von Büros zuständig war:

"Als ich das erste Mal Lebensmittelmarken bekommen habe, habe ich mich gefragt, wo ich sie einlösen soll. Ich wollte auf keinen Fall irgendwo bei mir in der Nähe in den Supermarkt gehen, weil ich mich geschämt habe."

Ohnehin, die Scham. Viele, die plötzlich abhängig von der Hilfe anderer sind, schämen sich:

"Es ging mir so schlecht, ich war wirklich unglücklich. Es ist wirklich eine schmerzhafte Prüfung, wenn man das nicht kennt, jemanden um Hilfe zu bieten, um sich zu ernähren. Das ist so schmerzhaft und erniedrigend, oder sagen wir: es könnte erniedrigend sein."

Denn immerhin gibt es sie in Frankreich, all die Ehrenamtlichen, die in den Restaurants der Herzen oder den sozialen Lebensmittelläden arbeiten. In den Resto du Coeur, den Restaurants der Herzen, werden Lebensmittel und fertige Gerichte an Bedürftige verteilt. Die Zahl derer, die diese Lebensmittelhilfe in Anspruch nehmen müssen, wächst täglich. Mittlerweile sind es 900.000 Franzosen, die sich mithilfe der Resto du Coeur ernähren, erzählt die Ehrenamtliche Matilde:

"Es ist mehr als nützlich, mehr als wichtig. Wir servieren tausende Essen zusätzlich. Es ist eine traurige Bilanz, zu sehen, dass die Zahl derer, denen wir helfen in den vergangenen vier Jahren um 25 Prozent zugenommen hat."

Immer mehr Franzosen geht es wie der arbeitslosen Innenarchitektin Patricia. Solange es irgendwie geht, versuchen sie aber wie Patricia den Schein zu wahren. Vielleicht ein Grund dafür, dass es in Frankreich keine soziale Protestbewegung gibt, dass die neue Armut sich eher im Verborgenen abspielt - und symbolhafte Besetzungen von Luxusrestaurants auf dem Champs-Elysée nur die Ausnahme sind.
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