Der Schriftsteller und die Frauen

02.01.2009
Während einer Lesereise im Jahr 1974 lernt Max Frisch in New York die halb so alte Verlagsangestellte Lynn kennen. Sie verbringen ein Wochenende in Montauk an der Nordspitze von Long Island. Frisch nimmt die Affäre zum Anlass über sein grundsätzliches Verhältnis zu den Frauen in seinem Leben zu reflektieren: Die autobiographische Erzählung über diese Romanze montiert er mit Erinnerungen, Tagebuchauszügen, Selbstreflexionen und anderem autobiografischen Material zu einer Collage.
"Amagannsett - heißt also der kleine Ort, wo er gestern beschlossen hat, dieses Wochenende zu erzählen: autobiographisch, ja, autobiographisch. Ohne Personnagen zu erfinden; ohne Ereignisse zu erfinden, die exemplarischer sind als seine Wirklichkeit; ... ohne Botschaft. Er hat keine und lebt trotzdem."

Die Erzählung "Montauk" ist das privateste und zugleich kunstvollste Buch des Schweizer Autor Max Frisch. Niedergeschrieben in einer Gemütsverfassung der Versöhnlichkeit und Angstlosigkeit - im Sommer 1974. Das Spiel mit der eigenen Biographie in Romanen, Tagebüchern und Dramen scheint ihm erschöpft. Fortan will er ohne Verstellung schreiben. In "Montauk" setzt sich Frisch, so radikal wie in keinem anderen Text, mit dem Verhältnis von Dokument und Fiktion auseinander.

"Ich möchte erzählen können, ohne irgendetwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position."

Doch wo verläuft die Grenze zwischen Dokument und Fiktion? Felix von Manteuffel, der die Erzählung ungekürzt liest, gelingt diese Gradwanderung auf atemberaubende Weise. Behutsam entfaltet er die raffiniert verzweigte Erzählstruktur.

"Es stört ihn, dass immer Erinnerungen da sind."
"Er möchte bloß Gegenwart."
"Er möchte bloß sehen."

Der Handlungsverlauf in "Montauk" ist eher trivial. Der Schriftsteller Max Frisch und die amerikanische Journalistin Lynn verbringen ein Wochenende miteinander.

"Er weiß, wo sie sich befinden: Montauk - ein indianischer Name; er bezeichnet die nördliche Spitze von Long Island, hundertzehn Meilen von Manhattan entfernt, und er könnte auch das Datum nennen: 11.5.1974."

Ein Arbeitsverhältnis begründet ihre Begegnung. Sein amerikanischer Verlag hat die junge Frau, 31 Jahre alt, geschickt, um den 63-jährigen Schriftsteller zu begleiten. Sie verständigen sich in Lynns Muttersprache - das verschafft Distanz, vor allem zu sich selbst. Er genießt, was und wie er in Englisch denkt. Sie erzählen nicht, sie reden.

"Dann ertappt ihn die Fremdsprache bei seiner wirklichen Meinung."
"Es ist ein Unterschied, ob man in einer Fremdsprache oder in der eigenen Sprache schweigt."

Die Nähe ihrer Körper kommt schließlich ohne Worte aus. Das ist die ganze "dünne Gegenwart" - aber sie ist nicht der Gegenstand der Erzählung. Das vermag der Hörer schnell zu erkennen. Es ist das Gedächtnis des Erzählers, das ihn jedes Erlebnis mit einer Erfahrung vergleichen lässt.

"Für Augenblicke kommt es ihm wie eine Einbildung vor oder wie eine ferne Erinnerung: dieser Gang mit einer jungen Frau."

Deshalb schwört er sich:

"Lynn wird sein Laster nicht kennenlernen."
"Lynn wird kein Name für eine Schuld."

Stilsicher begründet von Manteuffel im Zusammenspiel zwischen Erinnerungssequenzen und Reflexionen, literarischen Anspielungen und fremdsprachigen Einschüben eine sinnreiche Klangwelt. Bald folgt das Ohr seinem facettenreichen Timbre mit somnambuler Leichtigkeit. Indem seine Stimme die verschiedenen Zeit- und Raumebenen konsequent auslotet, vermag er sogar die Satzzeichen und jedes Beiseitesprechen hörbar zu machen.

"Plötzlich bin ich in Rom. Nur die architektonische Kulisse stimmt nicht dazu, das sehe ich. Keine Ahnung, was ich in Rom täte; ich bin nur grad in Rom für eine Weile."

Wie das erzählende Ich in Frischs Text durch das Aufblitzen einer Erinnerung beständig aus der Gegenwart rutscht und sich selbst in einer Erfahrung als Fremder begegnet, wird dank von Manteuffels kluger Inszenierung deutlich gemacht.

"Ich probiere Geschichten an wie Kleider."

Die Gewissheit, sich als Schreibender schuldig gemacht zu haben, bildet das Leitmotiv in "Montauk". Jede Erinnerung ist davon durchdrungen. Sie betrifft die problematische Beziehung zu dem langjährigen Freund W., seine konfliktreichen Jahre mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, die gescheiterten Ehen, seinen Brotberuf als Architekt und seine Schriftstellerexistenz.

"Ich habe mir mein Leben verschwiegen. Ich habe irgendeine Öffentlichkeit bedient mit Geschichten ... Ich habe mich nur verraten."

"Montauk" ist eine Erzählung über die Schwierigkeit, Leben zu beschreiben und Literatur zu leben.

In der Hörbuchfassung wird sie zu einem begehrten Klangprodukt für all jene, die durch das gesprochene Wort eine Ahnung davon bekommen, wie das Gelebte zum Reservoir eigener Erfahrungen werden kann - in jedem Leben.

Rezensiert von Carola Wiemers

Max Frisch: Montauk
Gelesen von Felix von Manteuffel
Regie: Burkhard Schmid
5 CDs, Gesamtlaufzeit ca. 338 Minuten
Vollständige Lesung, Produktion Hessischer Rundfunk/Der Hörverlag 2008, 24,95 Euro