"Der Reiz und die Bedrückung von Archiven"

Moderation: Barbara Wahlster · 06.06.2006
Gemeinsam mit einem Ägyptologen und einem Mittelalterforscher wird der Mannheimer Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch eine Gesprächsrunde im neu eröffneten Literaturmuseum der Moderne (LiMo) bestreiten. Die Veranstaltung am kommenden Freitag, den 11. Juni, beschäftigt sich unter dem Titel "Himmel und Hölle" mit dem Für und Wider von Archiven. An diesem Tag ist der Eintritt in das LiMo kostenlos.
Anlässlich der Eröffnung des Marbacher Literaturmuseums sprach Deutschlandradio Kultur mit Jochen Hörisch über den kulturellen Stellenwert von Literaturarchiven und ihre Zukunft. Lesen Sie hier einen Ausschnitt aus dem Gespräch:

Wahlster: "Himmel und Hölle", das Thema des Abends, bezieht sich auf Martin Walsers Satz vom Archiv als dem "unterirdischen Himmel" der Literatur. Ein Bild, das doch ein gewisses Spannungsverhältnis andeutet. Ist die Fülle tatsächlich so verheißungsvoll und erschreckend zugleich?

Hörisch: "Unterirdischer Himmel" ist natürlich das, was Literaturwissenschaftler, gebildet, wie sie sind, eine Katachrese nennen, also das, was gar nicht zusammenpasst: ein schwarzer Schimmel, ein hölzernes Eisen. Aber ich denke, Walser hat damit wirklich etwas erfasst, was den Reiz und natürlich auch die Bedrückung von Archiven ausmacht. In der Regel muss man ja gestorben sein, um überhaupt reinzukommen. Der Preis, den man zahlt, ist also hoch. Der Gewinn ist gleichermaßen groß: Wer im Archiv ist, lebt ewig.

(…)

Wahlster: Wie wird sich denn die Aussagekraft des Archivmaterials der Manuskripte künftig durch den Computer verändern? Da gibt es keine Streichungen mehr, kein Darüberschreiben, die Löschtaste ist ganz neutral, macht den Kampf oder die Spielerei im Text überhaupt nicht mehr sichtbar.

Hörisch: Für Philologen ein Albtraum, für Schriftsteller auch. Und ich weiß, dass viele Schriftsteller ganz bewusst, wenn sie literarisch arbeiten, noch zum Bleistift greifen oder zum Füller oder zur Reiseschreibmaschine. Warum? Weil sie ins Archiv kommen wollen. Natürlich wird man auch in hundert Jahren - selbst wenn heute der hinterbliebene Laptop eines bedeutenden Schriftstellers ins Archiv wandert - das nicht mehr ohne weiteres dechiffrieren können. Denn wer könnte in hundert Jahren noch eine Medientechnik voraussetzen, die die Medientechnik des Jahres 2000 lesbar macht? Also eine scharfe philologische, aber eigentlich nicht originelle These: Bestimmte Formen von kritischen Ausgaben, wo man Textstufen in ihrer Entwicklung und Entstehung vergleichen kann, die wird es nicht mehr geben, in dem Maße, wie die Schriftsteller auf elektronische Datenverarbeitung umsteigen, deshalb tun sie's zum großen Teil nicht. Die Attraktionskraft des Archivs ist riesengroß. Jeder will da rein, der überhaupt nur glaubt, mal was Bedeutendes geschrieben zu haben.

Das vollständige Gespräch mit Jochen Hörisch können Sie für begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.
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