Der Philosoph der Deutschen

Von Hans-Martin Lohmann · 18.06.2009
Seit Jahrzehnten ist er eine öffentliche Institution. Es gibt wenig so einflussreiche Wissenschaftler und Intellektuelle in Deutschland wie den Sozialphilosophen Jürgen Habermas. Von Beginn an hat er die Bundesrepublik mit seinen öffentlichen Interventionen kritisch begleitet.
"Eine Gesellschaftstheorie, die der geschichtsphilosophischen Selbstgewissheit entsagt hat, ohne den kritischen Anspruch aufzugeben, kann ihre politische Rolle nur darin sehen, mit einigermaßen sensiblen Gegenwartsdiagnosen die Aufmerksamkeit für die wesentlichen Ambivalenzen der zeitgenössischen Situation zu schärfen."

Mit diesem Satz umreißt der am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geborene Jürgen Habermas ziemlich präzise das Programm einer Sozialphilosophie, die als Wissenschaft nicht darauf verzichten will, relevante lebenspraktische Aussagen über den Zustand des sozialen und politischen Gemeinwesens zu machen. Es sind die Defizite und uneingelösten Versprechen einer modernen demokratischen Gesellschaft auf kapitalistischer Grundlage, die Habermas dazu treiben, ihr stets aufs Neue den Spiegel ihrer Zweideutigkeiten und Widersprüche vorzuhalten – mit dem Ziel, "die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne" voranzutreiben. Der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth formuliert es so:

"Ich glaube, dass die ganze Habermassche Idee nicht eine Vorstellung ist, die jetzt gewissermaßen nur in der Philosophie beheimatet ist, sondern dass dahinter durchaus sehr alltägliche soziale Erfahrungen stehen."

Schon der unbekannte Philosophiestudent wagte die Konfrontation mit dem Meisterdenker seines Fachs, indem er 1953 Martin Heidegger öffentlich vorwarf, sein Engagement für den Nationalsozialismus im Lichte der dann eingetretenen Katastrophe nach dem Krieg mit Schweigen übergangen zu haben – ein im konservativen Geistesklima der frühen Bundesrepublik ziemlich singulärer Vorgang, der Habermas durchaus die Karriere hätte kosten können.

Bei Theodor W. Adorno und Wolfgang Abendroth gewann Habermas das philosophische und politikwissenschaftliche Rüstzeug, mit dem er sich rasch einen Platz in der akademischen Welt eroberte. Seine 1962 erschienene Habilitationsschrift über den Stukturwandel der Öffentlichkeit avancierte alsbald zu einem vieldiskutierten Buch. Als anfänglicher Mentor der studentischen Protestbewegung von 1968 geriet Habermas ebenso in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit wie auch durch seine dann folgende Distanzierung, als er den rebellierenden Studenten Aktionismus und eine illusionäre Verkennung der Situation vorhielt, gipfelnd im Vorwurf eines "linken Faschismus".

Spätestens in den 70er-Jahren war klar, dass sich Habermas von der negativen Geschichts- und Gesellschaftstheorie der älteren Frankfurter Schule losgesagt und einen eigenen Weg beschritten hatte, der sich am Paradigma von Sprache, Verständigung und kommunikativ hergestellter Vernunft orientierte. In seinem Opus magnum "Theorie des kommunikativen Handelns" von 1981 ist die Abkehr von einer radikalen Vernunftkritik und die Hinwendung zu einer kommunikationstheoretisch begründeten Vernunft festgeschrieben. Damit geriet Habermas in eine Position, die er 1999 anlässlich der Verleihung des Theodor-Heuß-Preises selbstironisch kommentiert hat:

"Für Leute wie mich enthält ein solcher Preis ja auch eine Mitteilung – dass er, der Preisträger, nun, auch wenn er vom linken Rande herkommt, in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist."

Habermas hat diese Position der Mitte freilich stets in dem Sinne interpretiert, dass er jener Mitte nie nach dem Mund geredet, sondern sie im Zweifels- und Konfliktfall auf die strengen Maßstäbe argumentativer Überzeugungsarbeit und verständigungs- und vernunftorientierter Verfahren verpflichtet hat – gegen die stillschweigende Macht von Tradition, Gewohnheit und Vergessen. In zahllosen Debatten um das Selbstverständnis demokratischer Gesellschaften – erinnert sei an den Historikerstreit und an die Diskussion über Bioethik und Eugenik – hat Habermas die Öffentlichkeit immer wieder daran erinnert, wie zerbrechlich das Fundament ist, auf dem das Haus von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und politischer Freiheit errichtet ist. Es hört sich wie ein intellektuelles Vermächtnis an, wenn Habermas sagt:

"Die vornehmste Aufgabe der Philosophie sehe ich heute darin, gegen jede Gestalt des Objektivismus, also gegen die ideologische, das heißt scheinhafte Verselbständigung von Gedanken und Institutionen gegenüber ihren lebenspraktischen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen die Kraft der radikalen Selbstreflexion aufzubieten."