Der Philips Pavillon von Le Corbusier

Musikalische Architektur der Moderne

Von Tobias Wenzel · 27.08.2015
Le Corbusiers Philips Pavillon war das umstrittenste Gebäude auf der Expo 1958 in Brüssel. Für den Architekten war es ein "elektronisches Gedicht". Vor einigen Jahren hat der Soundingenieur Stefan Weinzierl am Computer rekonstruiert, wie es in dem Pavillon klang.
Stefan Weinzierl: "Sie stehen praktisch in der Mitte des Publikums. So, jetzt dreht sich die Kamera ein bisschen zur Seite."
Stefan Weinzierl deutet auf einen riesengroßen Bildschirm in seinem Büro an der TU Berlin. Der studierte Physiker, Tonmeister und Musikwissenschaftler hat zusammen mit Kollegen aus Europa das sogenannte "elektronische Gedicht", ein mittlerweile 57 Jahre altes multimediales Werk, virtuell rekonstruiert.
Stefan Weinzierl: "Wenn es etwas heller wird, werden Sie sehen, dass die Wandflächen so parabelförmig gekrümmt sind und jeweils von gegenüberliegenden Projektoren bespielt wurden. Egal, wo man hingesehen hat im Pavillon, man war völlig eingehüllt von den Bildern und vom Klang."
1956 beauftragte die niederländische Firma Philips den schon damals berühmten Architekten Le Corbusier damit, für die Weltausstellung in Brüssel zwei Jahre darauf einen einzigartigen Pavillon zu errichten und künstlerisch zu gestalten. Le Corbusier hatte die Idee zu einem, wie er sagte, "elektronischen Gedicht". Dazu entwarf sein Assistent, der Komponist und Architekt Iannis Xenakis, nach mathematischen Regeln erst einmal die Räumlichkeiten, einen Pavillon, der von außen so aussah wie drei miteinander verschmolzene Indianerzelte.
Stefan Weinzierl: "Das war ein Gebäude, in dem ungefähr 500 Personen Platz hatten. Das Gebäude hat den Grundriss eines Magens gehabt. Und die Idee von Le Corbusier war quasi, dass der Zuschauer diesen Magen betritt und nach verdautem Zustand, also nach künstlerischem Genuss, wieder als neuer Mensch verlässt."
Innen wurde der Pavillon in unterschiedliche Farben eingetaucht; von Le Corbusier persönlich ausgewählte Schwarz-Weiß-Fotos und kleinste Filmsequenzen wurden an die Wände projiziert und gaben einen Abriss der Menschheitsgeschichte und einen positiven Ausblick in die Zukunft. Währenddessen war eine sekundengenau auf die achtminütige Projektion abgestimmte avantgardistische Komposition von Edgar Varèse zu hören. Aber nicht an einem festen Ort. Vielmehr wanderte der Ton über 350 Lautsprecher, die in Form von zehn Routen angeordnet waren und den ganzen Pavillon durchzogen.
Ein bisher nie dagewesenes audiovisuelles Kunstwerk. Nachdem es rund zwei Millionen Menschen erlebt hatten, wurde der Pavillon nach dem Ende der Weltausstellung allerdings abgerissen. Da das "elektronische Gedicht" untrennbar mit dem Gebäude verbunden war, schien es in dieser Form für immer verloren.
"Ein bisschen wie ein naturrealistisches Computerspiel"
Bis Stefan Weinzierl mit Kollegen aus Italien, Großbritannien und den Niederlanden eben dieses Gesamtkunstwerk rekonstruierte. Und zwar vor allem auf Grundlage der noch erhaltenen Video- und Tonbänder, aber auch mithilfe von Fotos und Zeitzeugenaussagen.
Stefan Weinzierl: "Man kann sich das ein bisschen wie ein naturrealistisches Computerspiel vorstellen. Da wird ein Gebäude als 3D-Modell konstruiert, das sich in unserem Fall am Originalgebäude orientiert. Da werden Oberflächentexturen aufgebracht, die eben das historische Erscheinungsbild nachstellen."
Das ermöglichte nicht nur eine präzise Simulation dessen, wie die Bilder an die Wand geworfen wurden. Auch ließ sich ziemlich exakt die Raumakustik von damals berechnen. Genaue Informationen über die Materialbeschaffenheit der Wände und die Krümmungen im Pavillon erlaubten es, einen akustischen Fingerabdruck zu erstellen und letztlich das audiovisuelle Erlebnis zu wiederholen.
Stefan Weinzierl: "Der realistischste Modus wäre der, das man ein sogenanntes Head-Mounted Display aufsetzt, das ist so eine Datenbrille so wie die Oculus Rift, die jetzt ganz populär ist, und zusätzlich einen Kopfhörer und dann eben an einem Platz im Pavillon in der Mitte sitzt, den Kopf drehen kann, in alle Richtungen gucken kann und dieses Gedicht mitverfolgen."
Zwar gelang es Stefan Weinzierl und seinen Kollegen nicht, die Position eines jeden der 350 Lautsprecher zentimetergenau zu recherchieren. Aber als er Zeitzeugen, die 1958 selbst im Pavillon gewesen waren, die Datenbrille samt Kopfhörer aufsetzte, sagten sie, genau so habe es damals ausgesehen und geklungen.
Besessene Suche nach neuen Klängen
Es muss für die Menschen Ende der 50er-Jahre ein äußerst seltsames Hörerlebnis gewesen sein. Der Komponist Edgar Varèse hatte für das Werk wie ein besessener nach neuen Klängen gesucht. Er verfremdete Flugzeuggeräusche ebenso wie Gesang. Und er experimentierte mit Tönen aus Messgeräten.
Nach neun Monaten Arbeit stellte Edgar Varèse seine Komposition fertig. Die Kosten für das gesamte "elektronische Gedicht" waren in die Höhe geschnellt, von einer Million auf sechs Millionen niederländische Gulden. Damals eine gigantische Summe.
Unabhängig davon, dass Le Corbusier so eitel war, in der Projektion der Menschheitsgeschichte an den Schluss seine eigenen Bauwerke zu setzen, gilt das elektronische Gedicht rückblickend als wegweisend in der Medienkunst. Das findet auch der Experte für virtuelle Akustik Stefan Weinzierl:
"Das Besondere ist, dass eben ein Kunstwerk so ganzheitlich gedacht wurde, von der Architektur über die Bildgestaltung des Innenraums bis zur Musik und das Ganze auch räumlich gedacht wurde. Also auch die Musik ist quasi tönende Architektur, insofern als sich diese Klänge im Raum auf bestimmte Weise verteilen und durch den Raum bewegen. Und diese architektonisch gedachte, multimediale Installation war für ihre Zeit sicher einzigartig."
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