Der Lieblingsbruder hintergeht Bonaparte

Von Volker Ullrich · 09.07.2010
Am 9. Juli 1810 annektierte der französische Kaiser Napoleon Bonaparte das Königreich Holland, das seit der Gründung 1806 von seinem Bruder Louis regiert worden war. Kaum hatte der den Thron bestiegen, verschlechterten sich die Beziehungen schlagartig. Denn Louis zeigte sich nicht bereit, die strikten Maßnahmen der Kontinentalsperre auf Holland zu übertragen, weil dies unweigerlich zum wirtschaftlichen Ruin des Landes geführt hätte. Die daraus resultierenden Konflikte endeten schließlich damit, dass Napoleon das Land dem französischen Imperium einverleibte. Zuvor hatte Louis sich fluchtartig ins Ausland abgesetzt.
Goethe war überrascht. Sein Zimmernachbar, der sich im Juli 1810 unter dem Namen Graf von St. Leu im böhmischen Bad Teplitz einquartierte, war kein anderer als Louis Bonaparte, bis vor Kurzem noch König von Holland. Der Dichterfürst aus Weimar freundete sich mit dem neuen Kurgast an und verglich ihn immer wieder mit dessen berühmten Bruder, dem französischen Kaiser Napoleon:

"Louis ist die geborene Güte und Leutseligkeit, sowie sein Bruder Napoleon die geborene Macht und Gewalt ist ... Milde und Herzensgüte bezeichnen jeden seiner Schritte."

Diese Eigenschaften hatten auch die Niederländer zu schätzen gelernt. Im Mai 1806 hatte Napoleon die 1795, nach der Eroberung der Niederlande durch die französischen Revolutionstruppen, gegründete Batavische Republik in das Königreich Holland umgewandelt und Louis die Krone übertragen. Natürlich erwartete er von seinem Lieblingsbruder, der mit seiner Stieftochter Hortense de Beauharnais verheiratet war, dass er sich loyal verhalten und seine Wünsche und Befehle strikt befolgen würde. Doch Louis begriff sich von Anfang an als König der Holländer und nicht als bloßer Statthalter Napoleons. Er wollte seinen Untertanen ein milder und gerechter Herrscher sein.

Dieser Ehrgeiz musste ihn in einen immer schärferen Gegensatz zu seinem Bruder bringen. Bereits im April 1807 ermahnte ihn der aufgebrachte Empereur:

"Sie sprechen in Ihren Briefen fortwährend von Achtung und Gehorsam, aber ich will nicht Worte, sondern Taten ... Die Liebe, die Könige einflößen, muss männliche Liebe sein, gepaart mit ehrerbietiger Furcht und hoher Achtung. Sagt man von einem König, er sei ein guter Mann, so ist seine Regierung verfehlt."

Den größten Konfliktstoff barg die von Napoleon im November 1806 verfügte Kontinentalsperre, mit der England, der hartnäckigste Gegner Frankreichs, in die Knie gezwungen werden sollte. Für Holland waren die Folgen katastrophal, denn es lebte vor allem vom Handel mit dem britischen Inselreich. Hatte Louis zunächst die Anweisungen des Bruders befolgt, so ließ er sich bald von den Klagen holländischer Kaufleute und Unternehmer umstimmen. Stillschweigend duldete er, dass die Kontinentalsperre auf alle nur denkbare Art unterlaufen wurde. Holland wurde so zur Drehscheibe eines blühenden Schleichhandels; von hier aus fanden die geschmuggelten englischen Waren den Weg aufs Festland. Das konnte Napoleon nicht verborgen bleiben. Im Dezember 1809 war er mit seiner Geduld am Ende.

"Sie haben den Augenblick benutzt, wo ich auf dem Kontinent Schwierigkeiten hatte, um Hollands Beziehungen zu England wiederanzuknüpfen, um die Kontinentalsperre zu verletzen, das einzige Mittel, wodurch man dieser Macht auf wirksame Weise schaden konnte."

Zum ersten Mal drohte Napoleon nun damit, Holland zu annektieren, falls Louis sich weiterhin seinen Absichten widersetzen sollte. Die holländischen Patrioten scharten sich daraufhin um ihren "Koning Lodewijk" und bestärkten ihn in seinem Widerstand. Im Frühjahr 1810 brach Napoleon die diplomatischen Beziehungen zum Königreich Holland ab und ließ einen Teil, das linksrheinische Gebiet zwischen Maas und Schelde, besetzen. Louis musste einsehen, dass er gegenüber dieser Aggression machtlos war. Am 1. Juli 1810 gab er seine Abdankung bekannt:

"Holländer! In der Überzeugung, dass ich nichts mehr zu Eurem Nutzen und Eurem Wohl tun kann, vielmehr nur hinderlich bin, lege ich die königliche Würde ab ..."

In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli verließ Louis in einer schlichten Reisekutsche seine Residenz und erreichte incognito die deutsche Grenze. Napoleon schäumte vor Wut, als er von der Flucht erfuhr. Am 9. Juli wurde Holland per Dekret mit Frankreich vereinigt und das ganze Land von französischen Truppen besetzt. Charles Lebrun, einst Kollege Napoleons in der Zeit des Konsulats, wurde als Gouverneur mit diktatorischen Vollmachten nach Amsterdam entsandt. Einige Monate später, im Dezember 1810, folgte die Annexion des Großherzogtums Oldenburg sowie des norddeutschen Küstenstreifens mit den Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck. Doch ganz unterbinden konnte Napoleon den Schmuggel nie. Und in den annektierten Gebieten wuchs der Widerstand gegen die ungeliebte Franzosenherrschaft. In der Verbannung von St. Helena hat Napoleon eingeräumt, dass die Einverleibung Hollands, neben der Besetzung Spaniens, ein Kardinalfehler seiner Regierung gewesen war:

"Ich hätte Holland nicht annektieren sollen, das hat viel zu meinem Sturz beigetragen."