Der Laden

Von Eberhard Schade · 30.08.2009
Fast ein halbes Jahrhundert lang beobachtet Strittmatters Alter Ego Esau Matt im Roman den Aufbruch und Zerfall einer Familie. Sammelt die alltäglichen Tragödien und stapelt sie wie seltene und kostbare Fundstücke in seinen Erinnerungen. Familiengeschichte als Jahrhundertchronik. Kleines Welttheater in Bohsdorf.
"Lecker, lecker …"
Neun Damen in Seidenblusen und Baumwolltops sind entzückt. Sind gekommen, Literatur mal anders zu erleben. Zum Anfassen, am Ort des Geschehens. Und nun auch noch das. Vorneweg frischer Rhabarberkuchen vom Blech. Sowie ein freundlicher älterer Herr, der dazu Anekdoten erzählt.

Was im Ort plötzlich los ist, als der Roman, der seinen Schauplatz ein Haus weiter hat – als Film im deutschen Fernsehen läuft. Die Dorfbewohner nicht die Straße betreten können, ohne dass ein Kamerateam da ist, sie verfolgt. Überall Besucher, überall Neugierige. "In den Laden drüben", sagt der Mann, "mussten wir sie in Fünfer-Gruppen reinschleusen. Damit sich drinnen überhaupt was bewegt." Schmunzelt, und setzt hinzu: "Als hätt´ es Bananen umsonst gegeben…"

Klaus-Dieter Nikolaus ist Dorfchronist in Bohsdorf. Einem 600-Seelen-Nest in der Niederlausitz, nahe der polnischen Grenze. Nikolaus weiß alles, kennt alles und jeden. Mindestens zwei Generationen persönlich. Die anderen aus Erzählungen. Oder Erwin Strittmatters "Laden".
"Keine Angst", beruhigt er die Damen, "der Rummel ist längst vorbei". Und zeigt dann zur Einstimmung noch einen kleinen Film über Buch, Film und Bohsdorf.

Hier wächst Erwin Strittmatters Alter Ego Esau Matt auf. Beobachtet ein halbes Leben, fast ein halbes Jahrhundert. Den Aufbruch und den Zerfall einer Familie. Zwischen den Zeiten, den Gesellschaftssystemen.

Esau sammelt die alltäglichen Tragödien, die sich in einem kleinen Dorf abspielen. Stapelt sie wie seltene und kostbare Fundstücke in seinen Kindheitserinnerungen. Familiengeschichte als Jahrhundertchronik. Kleines Welttheater in Bohsdorf, im Roman Bossdom genannt.

Gut 500 Meter weiter die Dorfstraße runter. Die Gaststätte "Zum Felixsee". Abgehängte Holzdecke, rot-orange-gelbe Tüllgardinen, Plastikblumendeko. Gastwirt Jörg Kottwitz serviert frischen Spargel.

Am Fenstertisch, der einzige Gast. Arnd Klawitter. Jeans, T-Shirt, olivgrünes Baumwollshirt mit Kapuze. Klawitter spielt Esau Matt im Film. Ist damals 29, die Rolle sein Durchbruch. Den Roman kennt er da noch nicht, den Autor eher flüchtig.

Klawitter: "Ich kannte den Namen und ich wusste, dass er meinen Verwandten, Cousinen und Tanten, Onkels, aus der ehemaligen DDR, dass er denen ein größrer Begriff war. Das war so ein bisschen was bei uns zu Hause Günter Grass oder Böll war, war für die halt Strittmatter. Irgendjemand hatte auf jeden Fall irgendein Roman gelesen."

Als Hamburger Jung, wie Klawitter sagt, ist das hier ja auch nicht unbedingt seine Ecke. Die Lausitz. Dennoch: das platte Land auf dem Weg hierher, die blühende Heide. "Könnt` auch Schleswig-Holstein sein", sagt er. Und findet überhaupt, dass Heimat nicht immer nur ein Ort, sondern genauso ein Gefühl sein kann. Und das weckt Strittmatter in ihm. Immer wieder, wenn er ihn liest:

"Auch wenn ich die Orte und die Zeit und die Figur nicht kenne, bringt er so was zum Schwingen, was ich mit Heimat und Vergänglichkeit und Erinnerung zusammenbringe und hatte von Anfang an das Gefühl, das hat was mit mir zu tun. Das ist nicht mein Großvater, nicht der Ort an dem ich aufgewachsen bin, das sind alles nicht meine Geschichten, aber es hat mit dem zu tun, was ich erinnre, wenn ich bei meinen Großeltern zu Hause war. Was ich erinnre, wenn ich mein Vater von ganz früher von Lehrern sprechen höre oder was für Geschichten ich von der Flucht von meinen Eltern kenne. Das baut sich so zusammen und da gibt es Sachen, die vergleichbar sind."

Blättert im ersten Teil seines mittlerweile zerlesenen Roman-Exemplars und gibt eine erste Kostprobe. Eine dieser Stellen, bei der er automatisch auch an seine Jugend denkt, an seine kleine Welt in Hamburg-Niendorf. Die, ähnlich wie bei Strittmatter, ihre festen Koordinaten hat.

Klawitter liest aus "Der Laden": "Der Weg von der Dorfmitte bis zur Dicken Linde ist zwei Kilometer lang und ist das Maß für unsere Dauerläufe. Für mich blieb er bis heute das Zwei-Kilometer-Maß, mit dem ich Entfernungen in der Ägäis, am Polarkreis, am Kasbek, in Paris, in den Rheinsberger Wäldern, in Karelien, in der Pussta, auf dem Pritschow bei Dollgow oder bei Kvareli in Kachetien ausmaß und ausmesse. Bekannten, Verwandten und allen, die uns lieb sind, winken wir nach, wenn sie davongehen, bis sie hinter der Dicken Linde verschwunden sind. Hinter der dicken Linde geht die Bossdomer Welt zu Ende."

Jetzt will er los. Eben diese Welt kennenlernen, erkunden. Nach fast zehn Jahren endlich das Original sehen. Den echten Ort, den echten Laden. Und nicht den aus Pappmaché nachgebauten.


500 Meter die Dorfstraße entlang. Und schon steht er vor dem flachen Klinkerbau mit der Hausnummer 37. Erkennt ihn sofort. Und wird sofort erkannt. Von Nikolaus:

"Ah ja, das ist der große Esau. Sofort gesehen, ja. …"

Der Dorfchronist ist durch mit dem Kaffeekränzchen. Die Damen in den Seidenblusen und Baumwolltops gerade weg. "Bin gleich da", sagt er. Braucht erst noch eine Zigarettenpause. Klawitter aber will rein.

"Das Set war größer. Guck mal da, ja. Genau das ist die Ecke hier, da sind wir gerade rein gegangen. Doch das war für die Kamera einfach ein bisschen größer gemacht …"

Klawitter nimmt Maß. Vergleicht das Original mit der Kopie, dem Set. Geht einmal den Flur ab, der durch die Küche in die Wohnstube führt. Dreht wieder um, steht jetzt im Laden. Sein Blick verrät: irgendetwas sucht er:

"Na ja ich bin natürlich scharf auf diese Schmetterlinge, die man auf die Hand legt, die dann so anfangen mit den Flügeln zu schlagen, die gab´s ja dann in dem Laden. Die durch die Wärme der Hand anfangen sich zu bewegen."

Als er plötzlich die kleine Frau mit den roten, frisch frisierten Haaren, hinterm Ladentisch bemerkt. Ranghild Pannusch. Strittmatters Nichte. Sie ist nicht viel größer als die Anderthalbmetergroßmutter im Roman, für die der Großvater eigens ein Loch in die Tür zur Backstube bohrt. Damit sie gucken kann, wer gerade im Laden steht. Schmetterlinge? fragt Pannusch leise. Nein, die gibt’s leider nicht. Weiß aber, was Klawitter meint. Ihr Onkel nennt sie im Roman Schwalben. Die Stelle im Text findet sie in Klawitters Buch sofort.

Klawitter liest aus "Der Laden": "Im Laden sind Margarine, Magerkäse, Zucker, Salz, Grütze und Grieß eingezogen, und es sind Waren aus dem Vorrat des Welt-Waren-Lagers aufgetaucht, die der Vater Kinkerlitzchen nennt: Schulhefte, Pfeifentabak, Zigarren, Zigaretten, Kautabak, Wundertüten und Schwalben aus hauchdünnem Zelluloid, die mit den Flügeln schlagen, wenn man sie auf die warme Hand legt. Wer wird son Tingeltangel koofen? fragt der Zankgeist, der im Vater sitzt, und der Geschäftsgeist, der in der Mutter sitzt, antwortet: Heinrich, bedenke, mit een Schuß Brot am Tage, wie wolln wir da fortkomm?"

Im Juni 1919 erwerben Strittmatters Eltern das Bäckereianwesen mit Ladengeschäft. 1950 verstaatlicht, zieht der Dorfkonsum ein. Die triste Zeit reduzierten Angebots wird im Laden von heute galant übersprungen. "Rauchst Du Pfeife, rauchst Du Brinkmann!" wirbt eine Reklametafel. "Zum Scheuern und Putzen ATA benutzen". In den Regalen hinterm Ladentisch stehen neben Pfeifentabak und amerikanischem Schweinefett, Kisten mit Leibniz-Keks, Kaffee-Zusatz-Essenz, Blechbüchsen für Eukalyptus-Bonbons. Pannusch dreht sich einmal im Kreis, zeigt auf ihre Favoriten:

"So`n kleenes Päckchen Persil früher 35 Reichspfennig. Henko ist bekannt, Bleichsoda. Traubenzucker, Dexto pur, Kaffee im Nu, das sind Sachen, an die ich mich noch gut erinnern kann. Man kann sich an die Bonbongläser hier erinnern, da riecht es so schön lecker nach Himbeeren, die standen immer hier."

Dreipfundbrot, Schokoladentafeln, Holzpantoffeln, Reinigungsmittel. Alles wie im Original, wie im Roman beschrieben. Sogar die alten Terrakottafliesen auf dem Boden sind Zeitzeugen. Werden vor Eröffnung des Ladenmuseums neu verlegt. Genau wie die elektrische Leitung. Schön hässlich, wie früher, über Putz.

Klawitter: "Aber die Waage ist nicht die, das war ´ne andere. Die war anders, die war nicht so schwarz …"

"Ist sie doch", sagt Pannusch. Wie wichtig sie ist, hält ihr Onkel, der Schriftsteller, fest. Klawitter nickt. Diesmal weiß er, genau wo im Roman.

Klawitter liest aus "Der Laden": "Auf dem Ladentisch steht die Waage. Sie ist das Wichtigste im Laden, behauptet Großvater. Von die Woage hängt ab, ob eens zu Gelde kummt oder nich. Zwischen den Waagschalen spielen zwei Entenköpfe aus Guß-Eisen hin und her. Wenn die Schnäbel sich küssen, stimmt das Gewicht."

Die Waage ist noch mehr. Verrät sie doch den wahren Charakter der Kunden. Klawitter möchte gern weiterlesen:

"Die Obersteigersche zieht ihren Kneifer aus der Rocktasche, bückt sich zur Waage hinunter und kontrolliert bei allem, was für sie abgewogen wird, ob sich die Entenschnäbel küssen. Mißtrauen uff Beene, nennt sie der Großvater." -
"Misstrauen uff Beene …"

… das gefällt ihm. Doch will er jetzt mehr sehen, nach hinten gehen. Im Flur streckt der Schauspieler instinktiv die rechte Hand aus, rüttelt am Treppengeländer:

"Das Geländer weiß ich auch noch, das wackelte bei uns. Ja, wackelt auch hier."

Durch die Küche in die gute Stube der Familie. Die ist mit Linoleum-Fußboden ausgelegt, an den Wänden klebt Rauhfaser. Die Möbel: ein Sammelsurium aus Alt und Neu. Ein Kachelofen mit Ofenbänkchen, das Jugendstil-Vertiko der Mutter, eine Hellerau-Schrankwand aus den 50er Jahren – dazwischen hochmoderne Glasvitrinen, in denen mal ein schlechtes Schulzeugnis, mal eine Ole Bienkopp-Ausgabe in Hindi und alles, was sonst noch so an Strittmatter erinnert, mit kleinen Halogenleuchten angestrahlt wird.

Zwischen den zwei großen Fenstern zur Straße: der alte große Spiegel. An einer Stelle schon blind, im Rahmen wurmstichig, ist er – wie die Waage – ein stiller, wichtiger Zeitzeuge im Roman. Der Dorf- und Ladenchronist hat den großen Auftritt des Spiegels im Roman auf ein Kärtchen drucken lassen. Es steht auf dem Tisch direkt vor dem Spiegel. Klawitter nimmt es hoch, liest es:

"Die Großmutter geht auf den Spiegel zu, bestreicht die Decken und hext ein bisschen. Sie spuckt dreimal trocken, wispert und streicht, lüftet die Maske des Spiegels, schaut drunter und hexelt wieder. Endlich reißt sie die Decke herunter. Er wird zwischen die Fenster der Guten Stube gestellt, und dort wird er zwanzig und dreißig, ja, fünfzig Jahre stehen, und alle Menschen, die je in dieses Hausnest kommen, werden sich vor ihm bezupfen und betupfen."

Klawitter tritt einen Schritt nach vorn, befolgt Strittmatters Rat.

Klawitter: "Hast du schon? Er ist nicht so blass wie ich gedacht habe, er ist ja noch fit."

Ansonsten ist es still geworden zwischen Wohnzimmer und Laden. Wo es im Roman so oft bebt und kracht. Sich auf engstem Raum das Leben in seiner Fülle ausbreitet. Mit Liebe, Eifersucht. Streit, Versöhnung. Geburt und Tod. So wie in der Passage, in der Esaus Großvater stirbt.

Klawitter: "Beim Lesen des Buches musste ich da schon heulen. Weil ich gedacht hab. Da wird nicht über Gefühle gesprochen, sondern ein ganz absurder Satz. Die Großmutter steht in der Tür und ich sehe das und dann sagt sie nur: erst will er Salat, und dann das. Da weiß man, wenn man das liest, dass das kein Wort zu wenig, kein zuviel ist, nicht drauf gedrückt wird, eben nicht alles abgenommen und auserzählt wird."

… sondern genug Raum ist für den, der es liest. Für Bilder im Kopf. Und den, der es spielen muss, wie Klawitter. Der sich jetzt an den großen Tisch in der Guten Stube setzt, fieberhaft die Passage im Roman sucht. Findet – und, mit kleiner Verzögerung, nochmal vorliest.

Klawitter liest aus "Der Laden": "So, wenn der Stuhl sich dazu zu Ende geäußert hat … Eines Abends, als nach der Stromsperre das elektrische Licht der Petroleumlampe davonschwemmt, sagt der Alte: Is doch noch moal Frühjoahr geworn, nu wird’s ooch Sallat geben. Er lächelt; seine Zähne, die aussehen wie die dunklen Zähne eines alten Hengstes, werden sichtbar, und in diesem Augenblick fühlt der Tod sich unbeobachtet und packt den Alten und lässt ihn mitten im breitem Lächeln sterben. Ich packe die rechte Hand des Großvaters und werde gewahr, dass er es diesmal ernst gemacht hat mit dem Sterben."

Klawitter blickt hoch, schweigt. Ist jetzt endgültig in Strittmatters Welt angekommen. Noch einmal schweift sein Blick über jedes einzelne Möbelstück im Raum, jedes kleine Detail:

"Man merkt ja schon, dass hier so ein paar Sachen nicht stimmen. Die neuen Glasschränke, der PVC, da sind ja nochmal ein paar Jahrzehnte, die miteinander kämpfen. Die Gardinenstange, ich weiß nicht ob die Vorwende, Nachwende ist, der Nachtspeicherheizungsofen, den man aus ersten Wohnungen aus dem Westen kennt. Komische Steckdosen, falsche Tapeten. Das ist ja auch ein Konglomerat an Zeit, was sich hier miteinander abgibt."

Denn der Laden ist nicht immer Laden, die Gute Stube nicht immer Gute Stube. Mal ist beides Dorfkonsum, mal Gemeindebüro. Mal Privatwohnung, mal Mehrzweckraum, mal Poststelle. Mitte der 80er, als der erste Teil des Romans erscheint, kommen die ersten Besucher.

Klawitter will jetzt nach vorn. Zu Nikolaus. Der schickt aber nochmal Strittmatters Nichte nach hinten. Sie soll durch die Backstube führen.

Pannusch: "Das ist nämlich noch nicht salonfähig. Hier geht das drei Stufen runter, zur Backstube …"

Gebacken wird hier schon lange nicht mehr. Daran erinnert werden aber soll wieder. Deshalb sind die weißen Badezimmerfliesen schon zur Hälfte abgeklopft. Geben den Blick frei auf den alten, verrosteten Ofen. Auch die Fußgrube darunter – ausgehoben.

Pannusch: "Hier wurde Theater gespielt. Und auf der Fußgrube haben Zuschauer gesessen und hier unten spielte das Theater."

In guten Zeiten. Klawitter erinnert sich an die schlechten. Wie Esau 1946 als Deserteur der Wehrmacht in sein Heimatdorf zurückkehrt. Den Russen direkt in die Arme läuft. Dass er vor dem Krieg die Schule abbricht und Bäckergeselle wird – rettet ihm jetzt das Leben.

Klawitter liest aus "Der Laden": "Ich wiege Teig ab, den Teig für dreißig Sechspfundbrote. Ich wirke die Sechspfundstücke durch, forme Kugeln aus ihnen, mach aus den Kugeln Teigwalzen, die späteren Brote, und werfe sie zum Garen in Holzmulden. Ich habe das Brotbacken nicht verlernt, es ist mir wie alles andere, was ich mir beibrachte, wie Reiten und Radfahren, als wärs mir in die Gene gekrochen."

Das Brotbacken guckt Esau dem Vater bereits als Neunjähriger ab. Wie aber stellt sich eigentlich ein 29-jähriger gelernter Schauspieler dabei an, dessen Vater kein Bäcker ist?

"Das lief ganz gut. Es war gar nicht so irre schwer."

… sagt Klawitter. Macht einen Schritt nach vorn in Richtung Mehlbeute und erklärt, wie es geht:

"In diesem Teil war der Teig, der war dann schon aufgegärt. Der wurde nur schnell aus diesem Körbchen gelöst, in dem er schnell gestürzt wurde auf eines dieser Bretter. Die mussten gut bemehlt sein und die ganze Bewegung musste schwungvoll sein, sonst liefen sie schon vorher auseinander."

Pannusch nickt anerkennend. Und weiß natürlich, dass Esau hier, in der Backstube, nicht nur Sechspfünder backt. Sondern mit dem beginnt, was später so wichtig, so zentral im Leben Strittmatters sein wird. Mit dem Schreiben.

Pannusch: "Hier war es immer schön warm und gemütlich. Hier hat Erwin seine ersten Geschichten geschrieben …"

"Die Backstube ist meine Höhle", schreibt er im "Laden". Und weiter: "Nach der Großbäckerei, die ich bis in den Frühabend hinein betreibe, lege ich den Tisch unterm Backstubenfenster mit Packpapier aus, mache ihn zum Schreibtisch und lasse mich vom Schreibdrang packen." Nachts aber sperren ihn die so genannten Befreier in den Keller ihrer Kommandantur, ins Gefängnis.

Klawitter liest aus "Der Laden": "Ich stecke in meiner Bäckerkleidung, und die besteht aus einer alten Hose, einem Militärmakohemd, einer löchrigen Schiebermütze und einer bemehlten Bäckerschürze. Ich bin ziemlich ruhig, weil ich, wie ihr wisst, nicht das erste Mal in einem russischem Notgefängnis stecke. Ich bin sicher, dass ich nicht erschossen werde, doch wenn ich euch sage, was mich dort im Keller quälte, so werdet ihrs schwerlich glauben: Es quälte mich, dass ich die Arbeitspause nicht zum Schreiben verwenden konnte."

Jetzt aber. Nach vorn, in den Laden. Noch ein Griff ans Geländer im Flur. Klawitter nickt anerkennend. Ist noch immer begeistert vom Original. "Ein bisschen", sagt er, "kommt es mir vor, als bewege ich mich in einem Traum."

Klawitter: " … und ich finde es schön, dem Original vorzuwerfen, das ist doch hier zu klein. Das stimmt doch nicht."

Gern hätte er jetzt einen Kaffee. Nikolaus nickt. Weiß, wo es einen gibt. Bei Fiola Busse.

Nikolaus: "Hier, 100 Meter weiter, in seiner alten Schulklasse, ´ne Filiale inner Bäckerei."

Draußen, vor der Tür, zeigt er auf die Tafel auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Auf dem alle Orte mit Strittmatter-Faktor markiert sind. Das Ziegenberghaus also, Sastupeits Müllerei, Unter Eichen. Und natürlich die dicke Linde, hinter der die Bossdomer Welt zu Ende geht. Ohne Strittmatter-Fans, die auf diesem Spazierpfad wandeln, könnten die vier Gaststätten und zwei Pensionen im Ort wohl kaum überleben. "In der Gegend ist doch alles plattgemacht", schimpft Nikolaus. Glaswerk, Tuchwerk. Der Tagebau.

Nikolaus: "Sehen Sie das Zeichen, alles Bergleute. Sie werden hier ja kaum ne Stallanlage sehen. Das ist eine Bergarbeiterschlafstadt geworden."

Einen Frisör gibt es noch, zwei Autowerkstätten, einen Massage-Salon und einen Billardverein. Und eben Fiola Busses Laden. In der Dorfstraße, Nummer 45.

Die Frau im weißen Kittel kann fast so schön fluchen wie "Lenka" Matt, Esaus Mutter. Heute, insbesondere über den neuen, viel zu schmalen Bürgersteig vor ihrer Tür. Und im allgemeinen über die Bohsdorfer, die ja manchmal so stur sein können.


Bosse: "Die reden, aber wenn se irgendwas nicht passt dann werden sie immer bockig verstockt. Nur mal ´n Mund aufmachen und mit dem Nachbarn reden – das geht nicht. Ich sage, könnt ihr nicht sagen, räum deine Mülltonne weg. Nee, muss er allein sehen. Das ist doch hirnrissig, sag ich immer."

"Einmal Zucker und einmal Rahbarber. Bitte schön."

Fiola Busse serviert frischen Blechkuchen, Kaffee im Plastikbecher. Stemmt dann wieder die Arme in die Hüfte. Und redet. Elf Jahre steht sie nun schon in ihrem Laden. Umsatz pro Tag: rund 300 Euro. Stammkunden sind vor allem die Älteren im Ort, im Sommer die Bungalow-Gäste. Samstags kommen die Ersten bereits um dreiviertel sieben, erzählt sie. Nicht nur, um einzukaufen, versteht sich.

Busse: "Viele ältere Leute sind alleine, wollen irgendwas wissen, sich unterhalten. Wann sind Jugendweihen, wer hat alles Jugendweihe, ja gut. Is meine Aufgabe, sich vorne weg zu erkundigen, dass ich das sagen kann. Wer wann gestorben ist, das ist zuerst hier und dann geht’s wie im Lauffeuer rum."

Die alltäglichen Tragödien also. Kleines Welttheater. Genau wie im alten Laden. Genau wie im Roman.

Busse: "Ich hab versucht, die Bücher zu lesen. Ich hab 4, 5 mal angefangen. War mir, weil es in der Mundart geschrieben, zu kompliziert. Hab ich mir die Filme angeguckt, dachte ich: reicht eigentlich."

Was es sonst noch so Interessantes und Wissenswertes über Erwin Strittmatter gibt – das hat sie sich erzählen lassen.

Busse: "… war ja kein Kind von Traurigkeit. Im Film: schüchtern, zurückhaltend. Was hat mir hier ein Älterer gesagt: was bei drei nicht auf dem Baum war, hat der genommen. Na ja und der Bruder ..."

Na, was man sich eben so erzählt …

Die Neuigkeit des Tages aber hat sie nun, vor lauter Reden, verpasst. Dass ein echter Schauspieler bei ihr im Laden Kaffee trinkt, ein Stück Rhabarberkuchen isst. Egal. Der Dorfchronist ist wach, hat Klawitter längst gefragt, ob er sich drüben, im alten Laden, noch schnell im Gästebuch verewigt.

"Ja, das Buch. Auf diese Seite bitte. Heute ist der 10."

Ein paar Minuten später kniet Klawitter hinterm Ladentisch. Überlegt kurz, schreibt. Und liest auch noch mal:

"Zum ersten Mal bin ich heute hier und alles kommt mir sehr vertraut vor. Als ich im Flur stand, prüfte ich als Erstes das Treppengeländer, ob es auch wackelt. Es wackelte und ich dachte: richtig. Eigentlich eine komische Verdrehung zwischen Original und Nachbau, aber eine schöne. Es war eine schöne Tagesreise in die Vergangenheit, in Strittmatters und auch in meine eigene."

"Schön, hier gewesen zu sein."

Glocke. Tschüss.