Der Karl Kraus der Naturwissenschaften

Von Robert Schurz · 11.08.2005
Erwin Chargaff gilt als Wegbereiter der modernen Molekularbiologie. Doch er war wenig angetan von den Versuchen, mittels Genetik die Schöpfung zu verändern. Nach seiner Emeritierung geißelte er in scharfzüngigen Essays den technologischen Größenwahn. Vor hundert Jahren wurde er in Czernowitz geboren.
Es gibt Menschen, deren Biographie fällt so sehr mit einer Epoche zusammen, dass man sie gleichsam als Allegorie, als Sinnbild eines Zeitalters verstehen kann. Erwin Chargaff ist so eine Allegorie das zwanzigsten Jahrhunderts; er steht für den Aufstieg, die Anmaßungen, für die Abgründe, die Metzeleien und die tiefe Resignation, die die eben zu Ende gehende Ära charakterisieren.

Bezeichnenderweise war Erwin Chargaff Naturwissenschaftler, genauer Biochemiker, und seine Erforschung der DNS-Struktur, der Grundbausteine des menschlichen Erbgutes, trug wesentlich dazu bei, dass die Menschheit sich aufmachte, die Grundlagen des Lebens manipulieren zu wollen.

"Die Aufgabe der Wissenschaft, wie ich jung war, ist mir erschienen als die Beschreibung der Natur. Die Verbesserung der Natur oder die Veränderung der Natur hätte ich nie als meine Aufgabe betrachtet."

Aber nicht nur die Biotechnologie wird zur Zielscheibe der unermüdlichen Kritik Chargaffs, die gesamte Hybris, der Größenwahn der Naturwissenschaften steht für ihn am Pranger. "Es scheint ein Fluch der Gegenwart zu sein, dass fast jeder Edelstein der Wissenschaft ein Grabstein der Menschheit wird", schrieb er in einem seiner zahlreichen Essays und blickt dabei zurück auf eine lange Tradition von Verbrechen der Menschheit an sich selber.

Chargaffs Kritik zielt nicht nur auf die militärische Nutzung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die eigentliche Tragödie ist darin zu sehen, dass selbst dort, wo Technologien zum Heil der Menschheit eingesetzt werden sollen, sie in der Regel mehr Schaden als Nutzen bringen.

"Ich glaube", sagt er, "es gibt einen geheimen Zusammenhang: Wenn der Baum der Erkenntnis zu viele und zu große Früchte trägt, verdorrt der Baum des Lebens."

"Und plötzlich kommt ein Adjutant, ein Offizier zum Kronprinzen und flüstert ihm was ins Ohr, der sagt's den anderen, sie legen ihre Rackets weg und gehen weg und am nächsten Tag war's in der Zeitung, dass Franz-Ferdinand ermordet worden war in Sarajewo. "

Die Geschichte des letzten Jahrhunderts und auch die Geschichte Chargaffs beginnt mit dem ersten Weltkrieg, bis zu diesem Zeitpunkt, er ist gerade neun Jahre alt, lebt der Sohn einer wohlhabenden Bankiersfamilie in Czernowitz. 1914 zieht die Familie nach Wien. Erwin Chargaff besucht dort ein Gymnasium und studiert anschließend Chemie. Trotz dieses Studiums interessiert er sich schon damals eher für Geisteswissenschaften. So hört er zum Beispiel regelmäßig die Vorträge des großen Essayisten und Moralisten Karl Kraus. Nach Abschluss seines Studiums geht er nach New York, kehrt 1930 nach Berlin zurück, wo an der Universität als Assistent am Institut für Chemie arbeitet.

"Und einmal wurde ich angesprochen am Boykott-Tag, wie ich in die Bibliothek wollte um etwas nachzuschauen, und die haben mich gefragt: "Sind Sie Jude, Herr Kollege?", da hat er noch Kollege gesagt, das war März '33, später hat man anders gesprochen."

Er ist Jude, muss also vor dem NS-Regime fliehen, was seiner Mutter nicht gelingt: Sie wird in einem Konzentrationslager ermordet. Chargaff geht nach Paris, zwei Jahre später nach New York, wo er schließlich Professor wird. Es folgen etwa vierzig Jahre eines Lebens, das der Naturwissenschaft gewidmet ist. Er forscht und lehrt über Blutgerinnung und Lipoproteine; untersucht die Zusammensetzung von Nukleinsäuremolekülen und stellt aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse die so genannten Chargaff-Regeln auf, die als Wegweiser für die moderne Molekularbiologie gelten.

1974 wird er emeritiert, und es beginnt das zweite Leben des Erwin Chargaff. Er wird zum Warner der Menschheit, der freilich auch immer ein Prophet in der Wüste ist. Er wechselt die Disziplin, denn, wie er sagt:

"An einem Übermaß von Kafkainterpretationen wird die Welt nicht zugrunde gehen; sie ernähren dürftig den Schreiber und vergiften keinen Vogel. Aber die Errungenschaften der Chemie, der Physik haben unsere Erde an den Rand der Unbewohnbarkeit gebracht."

Noch fast dreißig Jahre lang sollte Chargaff warnen und mahnen, freilich mit zunehmender Resignation. Am Ende stehen mehr oder minder apokalyptische Visionen. Internet-Eltern, so prophezeit Chargaff, werden per Internet Internetkinder ordern, Leichen werden industriell ausgeschlachtet werden, bis vielleicht der Mensch ganz von der Erde verschwindet.

"Ja, ich nenne mich den schwarzen Pessimist, aber irgendwo habe ich geschrieben, dass nur der schwärzeste Pessimist in der Lage ist, zu hoffen."

Erwin Chargaff starb am 20. Juni im Jahre 2002, fast 97-jährig in New York.