"Der Heldenbegriff ist ganz irreführend"

Harald Welzer im Gespräch mit Frank Meyer · 27.01.2011
Wer ist in der NS-Zeit zu einem Retter geworden? Eine abgegrenzte Personengruppe lasse sich nich indentifizieren, so Sozialpsychologe Welzer, sie "kommen genauso wie Täter aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten." Den "geborenen Helfer" gebe es nicht.
Frank Meyer: Am 27. Januar 1945, also heute vor 66 Jahren, haben sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz befreit. In Berlin hat heute eine internationale Konferenz zur Holocaust-Forschung begonnen, die sich mit einem bislang wenig untersuchten Thema beschäftigt: mit den Helfern, mit den Rettern, die Juden und andere Verfolgte unterstützt, versorgt oder versteckt haben. Wie Menschen zu Helfern werden, warum sie sich gegen die Masse stellen und sich in Gefahr begeben, darüber spricht der Sozialpsychologe und Historiker Harald Welzer auf dieser Konferenz, und jetzt ist er hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen!

Harald Welzer: Hallo!

Meyer: Herr Welzer, wir müssen vielleicht erst mal klarstellen, wir reden hier über eine Ausnahme – oder über eine absolute Ausnahme in der Nazizeit – diese Helfer. Wie viele hat es davon eigentlich gegeben?

Welzer: Ja, das kann man eigentlich nicht wirklich genau sagen, man hat ungefähre Schätzungen. Wir wissen ja von 3000 bis 5000 Fällen von Personen, denen geholfen worden ist, und es ist natürlich jetzt nicht eins zu eins pro Helfer ein Retter, sondern Retter und Helfer agieren häufig in Netzwerken, helfen aber auch mehreren Personen, sodass man sicherlich sagen kann, man kann dieses Verhältnis noch mal verfünffachen oder so was, aber gemessen an der Gesamtbevölkerung hat man es dann auch mit sehr wenigen Personen zu tun.

Meyer: Wie gefährlich war das, Juden oder anderen zu helfen? Wie gefährlich war das tatsächlich?

Welzer: Ja, also es ist juristisch und von der wirklichen, faktischen Strafe nicht so gefährlich gewesen, wie man im Nachhinein gerne erzählt hat. Auch das ist kompliziert – viele Leute sind dann während der Nazizeit verurteilt worden aufgrund anderer Delikte, weil es direkt für die Judenhilfe erst sehr spät überhaupt Tatbestände gegeben hat, aber es ist halt nicht so, dass man dafür jetzt umgebracht worden wäre oder direkt ins Konzentrationslager gekommen wäre. Man ist schon sanktioniert worden, man konnte auch verhaftet werden und so weiter, aber es ist nicht die dramatische Strafandrohung gewesen, wie man im Nachhinein gesagt hat.

Meyer: Und die Deutschen, die Juden geholfen haben, die haben damit natürlich der Vernichtungspolitik der Nazis widersprochen, aber haben sie auch wirklich im völligen Gegensatz zur Mainstream-Stimmung der Bevölkerung gestanden, haben sie sich damit gegen die große Masse gestellt?

Welzer: Ja, ich glaube, man kann das ganz klar so sagen: Das Helfen war abweichendes Verhalten, während das Nichthelfen konformes Verhalten gewesen ist. Das macht es jetzt von heute aus auch schwierig, das einzuordnen. Wenn man versucht, das sofort auf Zivilcourage und Heldentum und so was zu beziehen, dann muss man einfach sagen, dass zu der Zeit, wo die Menschen geholfen haben – sagen wir 1942/43 –, die tendenziell außerhalb der Gesellschaft gestanden haben und nicht innerhalb der Gesellschaft. Das macht es auch noch mal schwer zu erklären, wer traut sich eigentlich, so was zu machen, und warum tun die Leute das.

Meyer: Das ist ja jetzt die Kernfrage, warum tun die Leute das. Liegt es zum Beispiel, was man denken könnte, an moralischen Grundüberzeugungen? Also zum Beispiel Antifaschisten haben vor allem Antifaschisten geholfen oder haben Christen vor allem geholfen, aus ihrem Menschenbild heraus.

Welzer: Das Erstaunliche, was man feststellen muss, ist, dass wir eigentlich gar keine abgegrenzte Personengruppe identifizieren können. Helfer kommen genauso wie Täter aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten. Wenn es so in einem eher religiösen Zusammenhang vermehrte Hilfeleistungen gibt, dann liegt das weniger an der Glaubensüberzeugung als dadurch, dass man natürlich schon Strukturen und Netzwerke hat innerhalb der bekennenden Kirche oder innerhalb eines Klosters, wo es einfacher ist, jemanden zu verstecken, als wenn man jetzt Einwohner eines Berliner Mietshauses ist. Aber wir können eigentlich keine Personengruppen identifizieren, wo man sagen würde, das sind die geborenen Helfer, und umgekehrt keine, da kommt das gar nicht vor. Hat auch übrigens nichts mit Bildung zu tun.

Meyer: Und was hat es mit Moral zu tun? Gehört zum Helfen eine starke moralische Überzeugung, ich habe die Pflicht als Mensch, einem Mitmenschen zu helfen?

Welzer: Also die meisten Helfer haben hinterher gesagt, wenn sie gefragt worden sind, warum haben Sie das gemacht, haben die gesagt: Na ja, was soll man denn sonst tun, oder man kann doch die Leute nicht verrecken lassen oder so was. Die haben aber keine in dem Sinne ausgefeilte moralische Überzeugung, die sind auch weder jetzt philosophisch gebildet noch religiös besonders aufgerüstet gewesen, sondern vielleicht kann man sagen, sie haben, wenn die Hilfe von ihnen ausgegangen ist, so etwas wie ein sehr grundsätzliches Empfinden darüber, was man Menschen antun sollte und was man ihnen nicht antun sollte, aber keins, was jetzt groß durch irgendwelche Reflexionen oder Bildung oder sonst was geschaffen worden wäre.

Meyer: Muss man dann auch sagen, wenn jetzt dahinter gar keine starke gegründete Überzeugung steht, das waren auch gar keine Helden, würden Sie das sagen?

Welzer: Ich glaube, der Heldenbegriff ist ganz irreführend. Natürlich ist es, gemessen an der Gesamtbevölkerung, die eben entweder nichts getan haben oder zum Prozess der Verfolgung aktiv beigetragen haben, ist es heldenhaft, aber man würde sich was Falsches vorstellen, wenn man glauben würde, diese Menschen, die geholfen haben, zeichnen sich jetzt als Persönlichkeit durch irgendwas ganz Besonderes aus – Helden, heilig und so weiter. Nein, man muss ja sehen, um zu helfen, muss man eigentlich drei Dinge haben oder darüber verfügen können: Man muss erst mal überhaupt sehen, dass Hilfe gebraucht wird. Gut. Das haben wenige gesehen, leider, aber wenn man das sieht, reicht es alleine nicht aus. Man muss dann auch selber für sich einen Handlungsspielraum sehen, in dem man aktiv werden kann. Und der dritte Punkt ist: Man muss dann Mittel haben, Bedingungen haben, um wirklich effizient helfen zu können. Hilfe bedeutet ja unter den Bedingungen auch immer, man darf weder den zu Rettenden oder zu Versteckenden gefährden noch sich selbst, und das ist natürlich unter Bedingungen einer Großstadt eine sehr komplizierte Angelegenheit. Also man merkt eigentlich schon so, dass man, wenn man das so nüchtern betrachtet, mit dem Heldenbegriff nicht weiter vorankommt, sondern es müssen Leute sein, die gut organisiert sind, die klar denken können, die bereit sind, etwas zu riskieren, und am allerbesten noch Teil eines Netzwerkes sind, in dem sie selber unterstützt werden.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer über die Frage, warum Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus zu Helfern, zu Rettern geworden sind. Sie haben in einem Essay, in einem früheren Text darauf hingewiesen, dass es besonders viele Helfer in sozial randständigen Milieus gab, also bei Kleinkriminellen, Prostituierten, Schiebern – also wie Sie vorhin schon sagten, es war nicht die Elite, nicht die Gebildeten, sondern eben zum Beispiel diese sozialen Außenseiter, die vor allem geholfen haben. Wie kommt das?

Welzer: Das ist eigentlich ganz einfach zu erklären: Menschen, die sowieso randständig zur Gesellschaft und zur Mehrheitsbevölkerung und auch zu den Behörden und so was sind, haben erstens weniger Skrupel, sie haben nicht so viel zu verlieren, sie kennen sich besser aus mit konspirativen und untergründigen Handlungsweisen, und sie haben vielleicht auch mehr Sympathien mit Leuten, die ihrerseits außerhalb der Gesellschaft stehen beziehungsweise dahin gebracht worden sind. Insofern ist das eigentlich nicht so verwunderlich.

Meyer: Eine Frage, die sich die heute beginnende Konferenz stellt, das ist: Wie kann man das, was man weiß über die Helfer damals, auch über die Motive für ihr Handeln, wie kann man das eigentlich übertragen auf Zivilcourage-Lernen heute zum Beispiel? Was würden Sie dazu sagen?

Welzer: Also ich glaube, dass die pädagogischen Bemühungen etwas in die falsche Richtung gehen – das haben wir eben schon mit dem Heldenbegriff eigentlich auch gehabt. Es kommt ja nicht darauf an, zum guten Menschen zu werden. Es kommt auch nicht drauf an, zum Helden zu werden. Es kommt auch nicht drauf an, universellen Moralvorstellungen zu folgen. Das ist eher hinderlich. Wenn Sie gesagt kriegen, du musst ein Held sein, du musst zivilcouragiert sein, das kostet ja nichts.

Meyer: Aber ich brauche doch einen Wertemaßstab, ich muss doch erkennen können, wenn Unrecht geschieht, da brauche ich doch Moralmaßstäbe.

Welzer: Ja, aber wo siedeln Sie die an? Das ist doch interessant. Siedeln wir die universell an und sagen, es ist gut, gut zu sein, oder siedeln wir die dort an, wo Menschen tatsächlich eine überschaubare Aufgabe zu erfüllen haben. Also ich bin der Meinung, wir leben ja nicht in einfachen Gesellschaften, sondern in sehr komplizierten, hoch arbeitsteiligen Gesellschaften. Ein Holocaust entsteht deswegen, weil Menschen an ihrer Stelle, in ihrem Job, an ihrem Arbeitsplatz Dinge tun, ohne darüber nachzudenken. Die Erfüllungsgehilfen des Holocaust sind ja keine bösen Menschen, sondern das ist der Reichsbahnschaffner, das ist der Typ, der in irgendeinem Büro sitzt, das ist der Arzt, das ist die Arzthelferin – kurz: alle. Und das Problem liegt darin, die haben sich ja selber für gut gehalten, die haben sich ja nicht für schlechte Menschen gehalten, sie waren aber nicht in der Lage, in dem Rahmen, in dem Raum, für den sie verantwortlich sind, die richtige Entscheidung zu fällen. Und ich bin der Meinung, man sollte in den Schulen und entsprechend in der politischen Bildung viel mehr darauf achten zu gucken: Guck mal, das ist dein Handlungsraum, hier kommt es auf dich an und hier kannst du eine Entscheidung treffen, dies oder jenes zu tun. Und das ist, glaube ich, viel zielführender, weil es viel konkreter ist und viel mehr auf die eigene Person bezogen, als wenn man immer so ganz allgemein sagt, man muss gut sein oder das sind Helden gewesen, sei bitte auch ein Held oder so. Das ist eine glatte Überforderung und im Übrigen von der Sache her auch total abstrakt, das lässt sich gar nicht so runterdeklinieren auf den eigenen Alltag.

Meyer: Das heißt, der Schüler sollte sich weniger mit der Geschichte des Holocaust zum Beispiel auseinandersetzen und mehr darüber nachdenken, darauf gestoßen werden, wie er an seiner Schule eintritt für Gerechtigkeit?

Welzer: Das wäre sicherlich ein guter Handlungsraum, an dem man vieles erklären kann und auch fühlen kann, also auch an Schulen gibt es Ausgrenzung, gibt es Mobbing, gibt es Erniedrigung von anderen – da ist zum Beispiel ein konkreter Verantwortungsraum für Schülerinnen und Schüler. Und der andere Punkt ist wirklich, glaube ich, der, dass man sich sowieso klarmachen muss, dass man bestimmte Handlungsbereitschaften nicht durch Reden erzeugt, sondern durch eine Praxis. Wenn ich also eine Institution, eine Schule, ein Heim oder sonst etwas habe, das selber eine Kultur der Solidarität, der Empathie pflegt, dann habe ich eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Personen da drin auch so handeln werden. Wenn ich das die ganze Zeit nur erzähle, aber in der Schule selber Autorität, Ausgrenzung, Mobbing und so weiter herrschen, kann ich so viel erzählen, wie ich will, da passiert überhaupt nichts.

Meyer: Wie wird man heute zum Helfer, warum haben Menschen in der Nazizeit Juden und andere Verfolgte gerettet? Mit diesen Fragen befasst sich die dritte internationale Konferenz zur Holocaust-Forschung, die am heutigen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begonnen hat. Und wir haben darüber mit Harald Welzer gesprochen – ich danke Ihnen herzlich!

Welzer: Bitte schön!

Link: Programm 3. Internationale Konferenz zur Holocaustforschung
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