Der "Hamburger Kessel " vor 31 Jahren

"Eins zwei drei, lasst die Leute frei!"

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"Hamburger Kessel" auf dem Heiliggeistfeld: Die von der Polizei eingekesselten Demonstranten. © picture-alliance / dpa / Ingo Röhrbein
Von Jule Hoffmann · 19.07.2017
Altversierte Anti-AKW-Aktivisten werden sich beim jüngsten G20-Gipfel an früher erinnert haben: Denn vor 31 Jahren, am 8.6.1986, wurden bei einer Demonstration auf dem Hamburger Heiliggeistfeld etwa 800 Demonstranten eingekesselt. Mehrere Hundertschaften Polizisten umzingelten die Demonstranten und ließen sie nicht gehen - nicht mal zur Toilette.
"Ich fordere noch mal alle vor uns befindlichen Personen auf, sich einzeln hier zum Fahrzeug zu begeben, damit wir hier Personalien feststellen können …"
Das war gegen halb 3 Uhr nachmittags. Etwa 800 Menschen waren auf dem Hamburger Heiligengeistfeld umzingelt von Polizeiketten. Rausgelassen wurde nur, wer akzeptierte, durchsucht zu werden, seine Personalien feststellen zu lassen und direkt in Gewahrsam genommen zu werden.
"Unsere Forderung war, dass die den Kessel auflösen und wir ohne Kontrolle nach Hause gehen können. An Demo war ja eh nicht mehr zu denken."
Die damalige SPDlerin Cornelia Kerth hatte mit anderen friedlich gegen die Polizeiwillkür vom Vortag demonstrieren wollen: Polizisten hatten die Zufahrtsstraßen zur Anti-AKW-Demo in Brokdorf blockiert und Autos und Busse der Demonstranten angegriffen. Noch während sich die Demonstranten deshalb an diesem Folgetag versammelten, hatte die Polizei sie zusammengetrieben, unter ihnen auch der Journalist und damalige Musikstudent Eckhard Roelcke.

Gespräche waren nicht möglich

"Die Situation war völlig harmlos, wurden keine Steine geworfen, keine Flaschen geworfen, keine Parolen gerufen. Und plötzlich haben wir gemerkt, dass an der anderen Seite des Feldes Polizei aufzog, und zwar dichte Reihen, und die haben plötzlich angefangen, rhythmisch mit Knüppeln auf ihre Schilder zu schlagen."
"Und wir haben uns rumgedreht und wollten in die andere Richtung weg und haben dann festgestellt, da geht gar nichts mehr, wir sind so quasi zusammen getrieben worden, und zack - fand man sich in einem Kessel."
Gespräche mit der Polizeiführung waren nicht möglich, konkrete Gründe für die Einkesselung nannte die Polizei auch Stunden später nicht.
"Eins zwei drei, lasst die Leute frei!"
Demonstranten außerhalb des Kessels sammelten Essensspenden für die Eingekesselten. Fast sechs Stunden lang durfte zudem niemand aus dem Kessel ein Klo aufsuchen.
"Die Leute haben nichts gemacht."
"Das sagen Sie jetzt so."

Notdurft bei offener Tür

Erst nach Vermittlung von Bürgerschaftsabgeordneten wie Michael Herrmann von der Grün-Alternativen Liste wurden Einzelne von Polizisten zur Toilette geführt, wo sie bei offener Tür ihre Notdurft verrichten konnten. Viele waren aber gezwungen, im Kessel vor die Füße der Polizisten zu pinkeln, unter hämischen Bemerkungen.
Cornelia Kerth: "Als dann bei einsetzender Dunkelheit so eine mobile Flutlichtanlage aufgebaut wurde, da hat man sich natürlich schon gefragt, wie lange soll das hier noch weitergehen, sollen wir hier die Nacht verbringen im Stehen oder wie. Es wurde ja auch langsam kühl."
Decken durften nicht in den Kessel gebracht werden, Angehörige wurden nicht informiert, auch nicht von Minderjährigen. Die Polizei ging offiziell von Gewalttätern im Kessel aus.
Kerth: "Und Michael Herrmann hatte dann eben auch ein Radiogerät reingereicht, aus dem wir dann die Berichterstattung verfolgen konnten und hörten dann, dass der Hamburger Innensenator verkündete, auf dem Heiligengeistfeld ist der harte Kern der RAF eingekesselt."

Eine überschaubare Gruppe

Die Hamburger Springerzeitungen "Welt", "Bild" und "Hamburger Abendblatt" titelten mit entsprechenden Schlagzeilen. Dabei hatten Journalisten stundenlang Gelegenheit, sich vor Ort ein Bild zu machen, sagt Eckhard Roelcke:
"Das war ja das Gute auch an diesem Heiligengeistfeld, wenn man das mal so sagen kann, es war eine überschaubare Gruppe, es war ein isolierter Platz, wir haben uns nicht bewegt, wir konnten uns nicht bewegen. Jeder konnte kommen, um 13 Uhr, um 14 Uhr, um 17 Uhr, um 18 Uhr sich das angucken. Und sehen, wer da steht."
Menschen an Fenstern und auf Balkonen der Feldstraße bekundeten ihre Solidarität und bevölkerten das Heiligengeistfeld rund um den Kessel. Unter ihnen Margit Czenki:
"Später, sehr spät abends kamen Taxen. Und zwar von Richtung Feldstraße, haben versucht hier hochzufahren. Und die haben so ganz trocken gesagt: 'Unser Beruf ist es, Leute abzuholen und nach Hause zu fahren.' Und die fuhren dann durch ein Spalier von Polizei, weil die überall waren und die Polizei hat mit den Knüppeln draufgehauen."
Stattdessen fuhren Gefangenentransporter einzeln vor, um die Demonstranten auf Polizeistationen zu bringen und erkennungsdienstlich zu behandeln. Cornelia Kerth wurde erst um vier Uhr morgens entlassen.
Kerth: "Und da waren halt wieder Taxen, die gesagt haben, hallo Leute, kommt ihr aus der Polizeikaserne, wo wollt ihr hin, und dann haben die uns kostenlos nach Hause gefahren."

Der Einsatz war rechtswidrig

"Wir haben hier verhindert, dass Demonstranten und vor allem sehr viele, sehr aggressive Personen durch die Stadt gezogen sind und große Schäden angerichtet haben."
So verteidigte der damalige Hamburger Innensenator Rolf Lange später trotz aller Vorwürfe das Verhalten der Polizei.
Das Verwaltungsgericht Hamburg hingegen erklärte den Einsatz noch im selben Jahr für rechtswidrig. Die Eingekesselten erhielten 200 DM Schmerzensgeld. Vier Tage später demonstrierten in Hamburg 50.000 Menschen gegen Polizeiwillkür, angeführt von einem Konvoi aus 100 Taxis.
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