Der gute Kommunist

Von Otto Langels · 27.04.2009
Im Jahr 1958 propagierte die Kommunistische Partei Chinas unter Mao Zedong den "Großen Sprung nach vorn", um das rückständige Land schnell in einen modernen Industriestaat zu verwandeln. Doch das Experiment führte in ein Desaster: Mao Zedong musste das Amt des Staatspräsidenten der Volksrepublik China aufgeben. Sein Nachfolger wurde am 27. April 1959 Liu Shaoqi.
Der Nationale Volkskongress wählte am 27. April 1959 Liu Shaoqi zum Staatspräsidenten der Volksrepublik China. Die Delegierten feierten, wie damalige chinesische Filmaufnahmen zeigen, ihr neues Staatsoberhaupt und bejubelten das grandiose Abstimmungsergebnis in der Großen Halle des Volkes in Peking: 1156 von 1157 Anwesenden hatten für Liu Shaoqi votiert.

Liu Shaoqi, 1898 in der Provinz Hunan als Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie geboren, schloss sich in jungen Jahren der kommunistischen Bewegung an, ging zum Studium nach Moskau, gründete nach seiner Rückkehr mit Mao Zedong und anderen Revolutionären die Kommunistische Partei Chinas und wurde mit 29 Jahren Mitglied des Zentralkomitees der KP. An der Seite Maos nahm er am legendären Langen Marsch teil.

"Wie wird man ein guter Kommunist" lautete der programmatische Titel seines Buches aus dem Jahr 1939:

"Wir Kommunisten sind die fortschrittlichsten Revolutionäre der modernen Geschichte. Parteimitglieder dürfen keine von den Parteiinteressen unabhängigen Ziele haben. Ihre persönlichen Ziele müssen mit den Zielen der Partei übereinstimmen."

Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 stieg Liu Shaoqi zum zweitmächtigsten Mann in Partei und Staat auf. 1958 leitete die Parteiführung mit dem sogenannten "Großen Sprung nach vorn" eine radikale Umwälzung traditioneller Arbeits- und Lebensformen ein.

"Der mächtige Sprung nach vorn im sozialistischen Aufbau ist das Ergebnis der korrekten Umsetzung der Generallinie der Partei, um größere, schnellere, bessere und wirtschaftlichere Ergebnisse zu erzielen..."

…, erklärte Liu Shaoqi im Mai 1958.

Als aber der "Große Sprung nach vorn" die chinesische Bevölkerung in eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe trieb, wurde Mao Zedong das fehlgeschlagene Experiment angelastet. Er blieb zwar Vorsitzender der Kommunistischen Partei (KP), trat aber als Präsident der Volksrepublik zurück. Liu Shaoqi wurde sein Nachfolger.

Der neue Präsident befürwortete eine langsamere ökonomische Entwicklung und schlug vor, freie Märkte einzurichten, Akkordlöhne wiedereinzuführen, den privaten Landbesitz zuzulassen und finanzielle Anreize zu gewähren. Mitte der 60er-Jahre fürchtete Mao, seine führende Rolle in der Partei zu verlieren und entfesselte die Kulturrevolution.

Die Kulturrevolution richtete sich auch gegen den Präsidenten. Die Roten Garden griffen Liu Shaoqi als "Konterrevolutionär" an, die Parteipresse nannte ihn den "Chruschtschow Chinas". Ein schlimmerer Vorwurf als der Vergleich mit dem Erzfeind Sowjetunion war kaum denkbar.

Im Oktober 1968 saß das Zentralkomitee (ZK) der KP über Liu Shaoqi zu Gericht. Radio Peking teilte über seinen Kurzwellensender mit:

"Liu Shaoqi ist ein in der Partei verborgener Renegat, Spion und Arbeiterverräter, ein Lakai des Imperialismus und des Revisionismus, der himmelschreiende Verbrechen begangen hat."

Angeleitet durch die proletarisch-revolutionäre Linie des Vorsitzenden Mao, wie es im schönsten Parteichinesisch hieß, fällte das ZK das absehbare politische Urteil:

"Die Plenartagung hat über die konterrevolutionären Verbrechen Liu Shaoqis flammende revolutionäre Empörung ausgedrückt und einstimmig die Resolution angenommen, Liu Shaoqi für immer aus der Partei auszuschließen."

Kurz darauf wurde Liu Shaoqi verhaftet. Ein Jahr später starb er im Gefängnis.
1980 rehabilitierte ihn die KP Chinas als "großen Marxisten". An seinem 110. Geburtstag im November 2008 ehrte die Partei- und Staatsführung ihn mit einem Festakt in der Großen Halle des Volkes in Peking, dort wo Liu Shaoqi am 27. April 1959 zum Präsidenten der Volksrepublik gewählt worden war.