Der große Unbekannte

19.05.2011
Sein drittes Buch mit dem früheren belgischen Kommissar Hannes Jensen als Hauptfigur hat Linus Reichlin geschrieben: "Er". Aber es ist weder ein waschechter Krimi geworden noch ein hundertprozentiger Liebesroman.
Jensen lernt in Berlin die Blumenhändlerin Lea kennen und beide verlieben sich ineinander. Aber irgendetwas stimmt mit Lea nicht – sie reagiert höchst unwirsch, sobald Jensen etwas über bestimmte Punkte in ihrer Vergangenheit wissen möchte. Leas in solchen Fällen ruppige Zurückweisung weckt natürlich die kriminalistischen Instinkte des früheren Kommissars.
Er findet heraus, dass Lea vor vielen Jahren wegen einer ungewollten Schwangerschaft aus Schottland geflohen ist und in Berlin ein neues Leben begonnen hat. Dann findet Jensen Zeichnungen, auf denen Lea ihn offenbar gezeichnet hat, aber das Papier ist längst vergilbt. Dabei hat Jensen Lea erst vor etwa vier Wochen kennengelernt. Doch Lea beteuert, ihre Zeichnungen zeigten ihn.

Und während Jensen weiter um Leas Gunst wirbt, sind ihr noch zwei Männer auf den Fersen: Angus und Sean. Noch bevor sie mit Lea sprechen können, wird Angus von einem Lastwagen angefahren und stirbt an der Unfallstelle.

Leas Vater, im Sterben liegend, hatte die beiden auf seine Tochter angesetzt, damit Lea ein Foto unter Verschluss hält – koste es, was es wolle. Das Foto ist der Schlüssel zu einem Vorfall auf einer kleinen schottischen Insel. Damals soll ein Unfall passiert sein, der sich möglicherweise als Mord herausstellen könnte. Und "Er" spielt eine große Rolle darin: Ein Mann, dem Jensen wie aus dem Gesicht geschnitten scheint und der offenbar der große Unbekannte in Leas Vergangenheit ist.

Linus Reichlin hat eine sehr spannende Geschichte geschrieben; seine Leser wollen wissen, was in Leas Vergangenheit passiert ist und wer "Er" ist. Allein deshalb wird es schwerfallen, das Buch aus der Hand zu legen.

Aber es ist mehr als dieser kriminalistische Aspekt. Reichlin hat es sehr gut verstanden, subtil die Gefühlswelt von Hannes Jensen in Szene zu setzen: ein Kommissar, der gerade von seiner Freundin verlassen wurde und nun hofft, endlich eine neue Liebe gefunden zu haben. Doch der Autor macht es seinem Helden nicht leicht. Jensen muss nicht nur den Zweikampf mit Lea um ihre neue Beziehung bestehen, sondern es mischen sich weitere Konflikte hinein: sture Inselbewohner, die archaische Traditionen aufrechterhalten wollen, treffen in der Großstadt auf Menschen, die zugänglich und kontaktfreudig sind. Und: Jensen ist in seinem Innern natürlich immer noch Kriminalist, der mit seiner Obsession, die ganze Wahrheit wissen zu wollen, seine Beziehung zu Lea aufs Spiel setzt. Über dem Ganzen schwebt drohend Leas Vergangenheit samt todkrankem Vater, der eine späte Versöhnung mit seiner Tochter anstrebt.

Auch sprachlich ist Linus Reichlins Roman ein Genuss: Die Inselbewohner reden drastisch miteinander und sprechen in markigen Worten über den Tod, während Hannes Jensen und Lea in Berlin beinahe philosophische Exkurse miteinander führen, wenn sie um eine gemeinsame Zukunft ringen. Innerer Verzweiflung stellt der Autor Naturgewalten gegenüber – als Hannes Jensen seinen entscheidenden Entschluss fasst, tobt vor dem Haus ein schweres Unwetter. Aber es hilft ihm, letzte Zweifel wegzublasen.

Am Ende sollte es dem Leser egal sein, ob er gerade einen Kriminalroman gelesen hat oder einen feinsinnigen Liebesroman. "Er" passt in keine der beiden Schubladen bzw. gehört in beide.

Besprochen von Roland Krüger

Linus Reichlin: Er. Roman
Galiani-Verlag, Berlin 2011
274 Seiten, 18,95 Euro
Mehr zum Thema