Der große Meister der Short Stories

Rezensiert von Maike Albath · 30.11.2005
William Somerset Maugham gilt als ein Meister der Kurzgeschichte in der angelsächsischen Literatur. Pünktlich zum fünfzigsten Todestag des Schriftstellers am 15.12.2005 legt der Diogenes Verlag eine sorgfältig ausgestattete Ausgabe zweier Erzählbände mit überarbeiteten Übersetzungen vor. Die Sammlungen enthalten einige der berühmtesten "Short Stories" der angelsächsischen Literatur überhaupt.
Der Arzt Macphail sitzt mit seiner Gattin in der Südsee fest: auf ihrem Schiff hatte es einen Masernfall gegeben, jetzt stehen alle Passagiere unter Quarantäne. Missgelaunt über die Verzögerung gehen die Reisenden in Pago Pago von Bord. Gemeinsam mit dem Missionarsehepaar Davidson finden die Macphails bei einem Kaufmann eine bescheidene Unterkunft.

Eine zermürbende Wartezeit beginnt: sintflutartige Regengüsse wechseln mit kurzen Hitzeperioden ab, es gibt nichts zu tun, und die Davidsons tragen ein militantes Christentum zur Schau. Sie sind besorgt um den Zustand ihrer Mission und können die Abfahrt kaum erwarten.

Da taucht eine weitere Reisegenossin auf: Eine junge Frau namens Miss Thompson nimmt ebenfalls bei dem Kaufmann Quartier. Nach ein paar Tagen tritt ihr loser Lebenswandel zu Tage, was die Verärgerung der Missionare hervorruft. Sie hat fortwährend Matrosen zu Gast und spielt bis tief in die Nacht das Grammophon.

Jetzt erinnert sich Davidson, sie aus Iwelei, dem Rotlichtbezirk von Honolulu zu kennen. Von seinem Auftrag der Seelenrettung durchdrungen, wirkt er auf den Gouverneur ein und erreicht, dass Miss Thompson mit dem nächsten Schiff nach San Francisco verfrachtet werden soll. Die nassforsche Frau bricht zusammen und bittet, wenigstens nach Sydney reisen zu dürfen.

Zu Macphails Entsetzen, der schlichtend einzuwirken versucht, besteht Davidson auf seiner Entscheidung und erreicht einen völligen Zusammenbruch der Frau. Es stellt sich heraus, dass sie in San Francisco eine unverbüßte Haftstrafe von drei Jahren erwartet, sie fleht um Vergebung und gesteht ihre Sünden. Mit genussvollem Sadismus wohnt der Missionar der "Wiedergeburt ihrer Seele" bei und steigert sich gemeinsam mit ihr in eine Ekstase aus sühnenden Gebeten hinein. Am Ende wird Davidson mit durchgeschnittener Kehle am Strand aufgefunden.

Perfekt komponiert und in leicht dahin fließender Prosa verfasst, sind Maughams Erzählungen nicht zuletzt kleine Lehrstücke über den Aufbau von Kurzgeschichten: scheinbar mühelos fügen sich Exposition, Pointe und Schluss aneinander. Ein Großteil der Erzählungen ist in den ehemaligen britischen Kolonialgebieten angesiedelt, und häufig geht es um die Entlarvung der wahren menschlichen Eigenschaften.

Dabei entpuppen sich die starren Konventionen als verlogene Verhaltensmuster. So auch in der Geschichte Edward Barnards Untergang, die in einer der angesehensten Familien Chicagos spielt. Weil Edward Barnards Vater durch einen Börsengang seinen Reichtum verlor und wegen der Schande Selbstmord beging, ist eine Heirat für Edward undenkbar. Er vertröstet seine Verlobte Isabel, denn es gibt einen Ausweg: Er muss sich in Tahiti bewähren und möglichst rasch Karriere machen.

Weil Edward, bisher von Ernsthaftigkeit, Ehrgefühl und hingebungsvoller Liebe zu Isabel erfüllt, nach zwei Jahren keine Anstalten macht, in die Heimat zurückzukehren, beschließt ihr gemeinsamer Freund Bateman - seit jeher ebenfalls in die bezaubernde Isabel verliebt - Edward in Tahiti aufzusuchen.

Entsetzt muss er feststellen, dass Edward sich grundlegend verändert hat. Sein amerikanischer Ehrgeiz ist verschwunden, er übt eine einfache Arbeit aus und hat zu allem Überfluss freundschaftliche Bande mit einer zwielichtigen Gestalt der Chicagoer Gesellschaft geknüpft, die nach Tahiti verstoßen worden war.

Aber das Schlimmste ist: Edward wirkt zufrieden und behauptet, in dem einfachen Dasein sein Glück gefunden zu haben. Heimlich triumphierend kehrt Bateman nach Chicago zurück und erstattet Isabel über den inakzeptablen Wandel Bericht. Endlich kann er der Angebeteten einen Antrag machen und ihr ein standesgemäßes Leben bieten.

Mit weltläufigem Charme und einer pointierten Erzählweise entkleidet Maugham die Ideale der abendländischen Gesellschaft. Ob in den Kolonien, in Amerika, England oder Frankreich, immer wieder werden menschliche Regungen zum Motor des Handelns, werden Schein und Sein als völlig verschiedene Sphären entlarvt.

Das Geheimnis für die spannungsreiche Erzählweise liegt in der erbarmungslosen Distanz: Immer wieder ist es ein äußerst kühler Blick, mit dem der großartige Physiognomiker seine Helden abtastet. Ihm genügen nur wenige Sätze, um die Eigenarten seiner Figuren zu umreißen und sie zu lebendigen Wesen zu machen.

Pünktlich zum fünfzigsten Todestag des Schriftstellers am 15.12.2005 legt der Diogenes Verlag eine sorgfältig ausgestattete Ausgabe zweier Erzählbände mit überarbeiteten Übersetzungen und erstmals auf Deutsch publizierten Vorreden vor. Die Sammlungen enthalten einige der berühmtesten Short Stories der angelsächsischen Literatur überhaupt.

Als einer der produktivsten und erfolgreichsten Autoren seiner Zeit war William Somerset Maugham ein großartiger Anthropologe mit Blick für Unstimmigkeiten, groteske Details und die Abgründe der menschlichen Seele.

Die glücklichen Kinderjahre in Frankreich endeten für den 1874 in Paris geborenen Maugham, als seine Mutter an Tuberkulose starb. Der Zehnjährige wurde in den freudlosen Haushalt seines Onkels nach England verfrachtet und wuchs in einem bigotten Pfarrhaus auf. Beeinträchtigt durch einen Sprachfehler - Maugham stotterte stark - musste er sich als junger Mann mühsam von seinen Selbstzweifeln befreien.

Maugham studierte in Heidelberg Philosophie und absolvierte in London die Ausbildung zum Mediziner. "Aus Mangel an Phantasie", wie er später behauptete, verarbeitete er die Erfahrungen als Gynäkologieassistent in seinem Debüt Liza von Lambert (1897), das ihn sofort berühmt machte, ihm aber auch ein schmuddeliges Image bescherte. Seine Titelheldin ist eine junge Bewohnerin eines Londoner Elendsviertels mit einem Hang zu Untreue, die eine Liebschaft mit einem verheirateten Mann unterhält und schließlich an einer Fehlgeburt stirbt.

Seine Fähigkeit zu eindringlichen Milieuschilderungen stellt Maugham schon in seinem Debüt unter Beweis. In den Erzählungsbänden kommen Urbanität, Zuspitzung und gewitzte Dialogführung hinzu. "Ich will gelesen werden" lässt Maugham einmal einen seiner Helden sagen. Seine Unterhaltsamkeit wurde ihm von der Kritik mitunter übel genommen. Aber eine Wiederentdeckung des großen Meisters der Shortstory lohnt sich.


William Somerset Maugham: Ost und West. Der Rest der Welt
Gesammelte Erzählungen in zwei Bänden
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Diogenes Verlag 2005.
2674 Seiten. 49, 90 €