Der globalisierte Mensch

"Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht beliebig frei sind"

Jemand sitzt an einem Tisch vor einem Laptop und hält mit einer Hand ein Smartphone, im Hintergrund ist ein Fahrrad zu sehen, im Vordergrund eine Tasse.
Total vernetzt: in einer globalisierten Massengesellschaft geht das Regionale und Vertraute verloren, sagt Remo Largo. © Imago / Westend61
Remo Largo im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 22.05.2017
Heimatlos, ohne Geborgenheit und soziale Anerkennung: Das Leben in anonymen Massengesellschaften passt nicht zum Wesen des Menschen, meint der Entwicklungsforscher Remo Largo. In seinem neuen Buch "Das passende Leben" skizziert er Alternativen.
Die anonymen Massengesellschaften, in denen wir heute leben, vermittelten weder Geborgenheit noch nachhaltige soziale Anerkennung, meint der Schweizer Arzt und Entwicklungsforscher Remo Largo.
Als "ausgesprochen soziale Wesen" seien Menschen aber sowohl auf Geborgenheit als auf soziale Anerkennung angewiesen, sagte Largo im Deutschlandfunk Kultur. Beides gehört für den Schweizer Forscher zu den menschlichen Grundbedürfnissen, deren Befriedigung Haupttriebfeder unseres Tuns sei. "Dann müssen wir auch die Umgebung so gestalten, dass sie uns dies ermöglicht."

Das Regionale und Vertraute wiederfinden

Entsprechend rät Largo in seinem neuen Buch "Das passende Leben" dazu, unsere globalisierte Lebenswelt gewissermaßen wieder zu verkleinern: etwa durch kleinere Gemeinschaften statt größerer Städte, durch direkte Demokratie und die Stärkung regionaler Regierungen.
"Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht beliebig frei sind, dass wir unsere eigenen Grenzen haben", mahnte Largo.
(uko)

Remo H. Largo: "Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können"
Verlag S. Fischer
480 Seiten, 24 Euro
Erscheint am 24. Mai


Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Wie schafft man das, ein passendes Leben zu führen, ein Leben, das einem gut tut und den Menschen um einen herum, ein Leben, das erfüllt und zufrieden macht und vielleicht die Welt ein bisschen besser? Eine große Frage. Der Schweizer Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo ist ihr nachgegangen. Seit 1978 hat er die Abteilung Wachstum und Entwicklung an der Uni-Kinderklinik Zürich geleitet und die Langzeitstudien, die er dort verantwortete, sind international einzigartig. Klassiker der Erziehungsliteratur, auch seine Bücher über Babyjahre, Schülerjahre, Jugendjahre. Nun geht es ihm ums Ganze, um "Das passende Leben". So heißt sein neues Buch, das dieser Tage erscheint, und mit Remo Largo habe ich gesprochen, denn sein Buch dreht sich um nicht weniger als das Wesen menschlicher Entwicklung. Was ist es denn, das uns antreibt?
Remo Largo: Ich sehe das so, dass eigentlich jedes Lebewesen, also vom Bakterium bis zum Menschen, getrieben ist durch seine Grundbedürfnisse. Offensichtlich ist das zum Beispiel im Bezug auf die Ernährung. Aber es gibt noch weitere Bedürfnisse wie etwa sich geborgen fühlen oder soziale Anerkennung bekommen oder seine Fähigkeiten zu entfalten.

Wer sich nicht geborgen fühlt, ist verunsichert

von Billerbeck: Sie sagen ja, der Mensch habe schon immer versucht, im Einklang mit sich selbst und auch mit seiner sozialen und auch mit seiner natürlichen Umwelt zu leben. Wie hat er das denn geschafft?
Largo: Was wir eigentlich den ganzen Tag unablässig tun, ist unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. Das gelingt uns einmal besser, einmal weniger, aber wir sind im Grunde genommen den ganzen Tag damit beschäftigt. Wenn sich ein Kind nicht geborgen fühlt, dann ist es gefühlsmäßig verunsichert, und es versucht, das irgendwie zu beheben. Oder wenn wir das Gefühl haben, dass wir zu wenig soziale Anerkennung bekommen, dann bemühen wir uns vermehrt darum.
von Billerbeck: Nun schreiben Sie ja über das passende Leben. Man hat aber den Eindruck, dass viele von uns heutigen Menschen eher ein unpassendes Leben führen. Warum gelingt es uns denn immer weniger oder nicht mehr, im Einklang mit uns selbst und unseren Grundbedürfnissen zu leben?
Largo: Ich denke, das liegt eben nicht mehr nur allein am Einzelnen, also etwa an den Erwartungen, die er an sich stellt, beispielsweise leistungsmäßig. Obwohl wir ja in der Schule sehr darauf abgerichtet werden, möglichst hohe Leistungen zu erbringen. Das Problem ist ja dann wiederum, dass die Vielfalt unter den Kindern, aber auch unter den Erwachsenen, extrem groß ist, sodass eben dann zum Beispiel die Leistung eine ganz unterschiedliche Bedeutung hat für den Einzelnen. Das ist das eine, aber das andere ist natürlich, dass die Umwelt auch so beschaffen sein muss, dass sie uns ermöglicht, ein passendes Leben zu führen.

Geborgenheit und Anerkennung gibt es nur in Gemeinschaften

von Billerbeck: Was fehlt uns denn? Welche Grundbedürfnisse werden vor allem nicht mehr befriedigt?
Largo: Zwei ganz wichtige sind die Geborgenheit und die soziale Anerkennung, und zwar einfach deshalb, weil eigentlich in der ganzen Menschheitsgeschichte diese innerhalb von Lebensgemeinschaften befriedigt worden sind. Das heißt, unter Menschen, die einem vertraut sind, ein Leben lang. Und die Schwierigkeit heute ist, dass wir in einer anonymen Massengesellschaft leben, also unter uns nicht vertrauten Menschen, und da ist es schwierig oder gar unmöglich, sich geborgen zu fühlen beziehungsweise eine soziale Anerkennung zu bekommen, die auf Dauer ist.
von Billerbeck: Sie empfehlen ja in ihrem Buch, die menschliche Lebenswelt quasi wieder zu verkleinern, also kleinere Gemeinschaften statt größerer Städte, mehr direkte Demokratie, regionale Regierungen stärken. Boden, Luft und Wasser sollen allen gehören, der Reichtum umverteilt werden durch ein Grundeinkommen, das an keine Bedingung geknüpft ist, und jeder Gewinn soll besteuert werden. Man soll generationenübergreifend wohnen. Das klingt ein bisschen, als wollten Sie die Uhr zurückdrehen.
Largo: Nein, eigentlich überhaupt nicht. Aber wir müssen auch akzeptieren, dass wir nicht beliebig frei sind, dass wir unsere eigenen Grenzen haben. Also wie ich bereits gesagt habe, wenn wir auf Geborgenheit und soziale Anerkennung angewiesen sind – und das sind wir, wir sind ausgesprochen soziale Wesen –, dann müssen wir auch die Umgebung so gestalten, dass sie uns dies ermöglicht. Was die Umgestaltung vor allem auch der Wirtschaft anbetrifft, ist es natürlich so, dass immer mehr in Frage gestellt wird, dass wir überhaupt genug Arbeit haben.

Königsweg Grundeinkommen?

Und eine Diskussion, die immer häufiger geführt wird, ist natürlich die über das Grundeinkommen, und eine Möglichkeit, um das noch etwas zu verdeutlichen, wie eben das Grundeinkommen finanziert werden kann, ist, dass man eine Steuer erhebt auf jede Art von Dienstleistung, also zum Beispiel auch auf die Börse oder auf Roboter, auf automatisierte Arbeitsprozesse.
von Billerbeck: Das klingt sehr konkret, und trotzdem, so schön ich das auch fände, frage ich mich natürlich, wie soll das praktisch geschehen in einer ja inzwischen sehr globalisierten Welt, in der wir von immer mehr anonymen Riesenunternehmen abhängen, die über uns entscheiden?
Largo: Ja, das besorgt mich auch. Und die Lösung ist sicher nicht einfach, aber was doch auffällig ist jetzt in den letzten Jahren, das ist, dass man sieht, dass mit dieser globalen Freiheit etwas verloren geht, was der Mensch eben braucht, also das Regionale, das Vertraute. Ich denke, dass in den politischen Strömungen zu einem Rechtspopulismus es eben auch darum geht, dass sich die Menschen heimatlos fühlen, dass sie ohne Zusammenhang sind, dass sie keine Identität mehr haben. Sie können sich nicht mehr mit dem Land, in dem sie leben, eigentlich identifizieren. Sie fragen sich, was denn eigentlich – was sie noch gemeinsam haben mit diesem Land. Das versteht man eigentlich nur, wenn man davon ausgeht, dass die Menschen seit 200.000 Jahren in vertrauten Lebensgemeinschaften gelebt haben.

Die zukünftigen Generationen können es schaffen

von Billerbeck: Wie Sie unser jetziges Leben beschreiben, das ist ja eher eine düstere Diagnose, aber Sie machen ja, das haben wir ja eben gehört, auch konkrete Vorschläge. Werden denn die jetzigen Kinder ein passenderes Leben leben können als wir heute Erwachsenen?
Largo: Ich bin eigentlich sehr zuversichtlich, weil wir ja das einzige Lebewesen sind, das fähig ist, sich seiner Lebenssituation bewusst zu werden. Das traue ich unseren zukünftigen Generationen absolut zu, dass sie das schaffen.
von Billerbeck: Remo Largo war das. Der Züricher Entwicklungsforscher hat ein Buch geschrieben über "Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können". Es erscheint dieser Tage bei S. Fischer. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Largo: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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