Der Geist der Treppe

30.09.2009
Ob Thomas Hürlimann vom alltäglichen Wahnsinn im Leipziger Literaturinstitut erzählt oder vom Untergang der Titanic: Immer sehen und erfahren wir, was wir uns nicht vorstellen konnten: lauter ungeheuerliche Begebenheiten.
Eine Serviertochter geht mit der Titanic unter, Thomas Bernhard und Rolf Hochhuth gründen ein Holztheater, im ersten Fernsehapparat der Familie sieht man den Papst und im letzten des Autors ein US-Geschoss in Bagdad. Der in Berlin lebende Schweizer Autor erzählt unglaubliche Geschichten ebenso kunstvoll wie wahrscheinliche. Er berichtet von dem, was Menschen zustoßen kann und davon, wie sie sich manchmal aus den Fallstricken wieder befreien. Geschichten aus fast 30 Jahren sind in diesem schönen Band zusammengefasst.

In der titelgebenden Novelle wird vom 70. Geburtstag des Dichters Gottfried Keller erzählt: Ein unerhörtes Ereignis. Das Land will ihn feiern, aber er ist vor den drohenden Ehrungen geflohen und inkognito in einem Hotel über dem Vierwaldstätter See abgestiegen. Dort sitzt er auf der Terrasse, trinkt viel zu viel Wein und sinnt über sein Leben nach. Alles scheint ihm missraten und falsch: "Je mieser mein Leben war, desto schöner wurden meine Worte."

Der Kellner hält ihn für einen Bauerntölpel, rezitiert abschätzig Kellersche Gedichtzeilen und will ihn vom Platz haben, denn inzwischen hat sich das Gerücht herumgesprochen, dass der berühmte Jubilar im Hause logiert. Thomas Hürlimann erzählt in dieser Geschichte aus dem Jahr 1991 einfühlsam und klug vom Dichter, der zweifelt, ob das der Schrift geweihte Leben das richtige war. Am Ende kann der kleinwüchsige Keller seinem Ruhm nicht entgehen, aber eigentlich hatte er den, auch wenn er ihn nun verachtet, ja doch immer herbeigesehnt.

In einer anderen Geschichte dieses lesesüchtig stimmenden Bandes geht es um einen Gelehrten, der ebenfalls seines Lebens überdrüssig wird. Der Mann war ein begnadeter und bewunderter Hochschulprofessor und prüfte die Fähigkeiten seiner Studenten nicht zuletzt an Hand eines Bildes, auf dem eine Treppe zu sehen ist. Wie Hürlimann dieses Bild, das zwei Kinder zeigt, beschreibt und zum Ausgangspunkt nimmt für eine allgemeine Betrachtung über die Treppe und ihren Sinn, wie er darin eigene Missgeschicke, den Geist der Treppe und ihre transzendentale Bedeutung verwebt, das ist eine große Kunst.

Überhaupt beherrscht dieser Autor die kleine Form meisterlich: Ob er vom alltäglichen Wahnsinn im Leipziger Literaturinstitut erzählt oder vom Untergang der Titanic: Immer sehen und erfahren wir, was wir uns nicht vorstellen konnten: lauter ungeheuerliche Begebenheiten.

Besprochen von Manuela Reichart

Thomas Hürlimann: Dämmerschoppen. Geschichten
Ammann Verlag, Zürich 2009
196 Seiten, 13,95 Euro