Der Fall Natalie K.

Erschütternder Text einer Kindermörderin

Schatten einer Mutter mit ihrem Kinderwagen auf dem Kopfsteinpflaster
Der Fall der Natalie K. hatte in der Schweiz großes Aufsehen erregt. © picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Zoë Jenny im Gespräch mit Andrea Gerk  · 04.07.2017
Es ist der erschütternde Text einer Kindermörderin, den die Schriftstellerin Zoë Jenny für die verstorbene Täterin veröffentlicht hat. Der Fall hatte in der Schweiz ein großes Medienecho gefunden, nun wollte die Autorin auch Natalie K. eine Stimme geben.
Am 1. Januar 2015 erstickt die 27-jährige Natalie K. ihre zweijährige Tochter und ihren fünfjährigen Sohn. Es ist die Tat einer verzweifelten Mutter, die aufgrund von Auseinandersetzungen mit Behörden keinen anderen Ausweg mehr sieht. Der erschütternde Fall wird in den Schweizer Medien breit diskutiert. Im Gefängnis bringt Natalie K. ihre Lebensgeschichte zu Papier und wendet sich an die Schweizer Schriftstellerin Zoë Jenny mit der Bitte, ihre Sicht auf die Tat zu veröffentlichen.

Hilferufe gegen staatliche Einmischung

Die Autorin ist Botschafterin der schweizerischen Kinder- und Jugendorganisation Pro Juventute und kämpfte einige Jahre gegen die Kinders- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Ihre damalige Website "Kindergerechte Justiz" wurde zu jener Zeit häufig von verzweifelten Eltern kontaktiert, die sich mit Hilfeschreien gegen die staatliche Einmischung in ihre Familienangelegenheiten wehrten. Auch die spätere Kindermörderin Natalie K. hatte Jenny so erstmals wenige Tage vor der Tat per E-Mail kontaktiert. Wenige Tage später las die Schriftstellerin in der Zeitung über die furchtbare Tat und erkannte den Namen wieder.
Die Schweizer Autorin Zoe Jenny im Jahr 2008.
Die Schweizer Autorin Zoe Jenny© picture alliance / dpa / epa / Keystone Kefalas

Keine Verteidigungsschrift

"Ich habe sie persönlich nie kennengelernt", sagte Jenny im Deutschlandfunk Kultur. Nach dem Selbstmord von Natalie K. im Gefängnis habe sie von den Behörden deren Aufzeichnungen aus der Haft erhalten. Nachdem die Eltern ihr Einverständnis gegeben hatte, suchte Jenny einen Verlag für dieses Vermächtnis. "Zuerst, als ich es bekommen habe, konnte ich es gar nicht lesen, weil ich wusste natürlich, dass es ein erschütternder Text sein muss", sagte Jenny. Sie konnte sich die Aufzeichnungen nur langsam zumuten und immer wieder Pausen bei der Lektüre einlegen. "Es ist sicher kein literarischer Text, es ist die Aufzeichnung einer ins extrem verzweifelten Person." Jenny sagte, sie sehe es nicht als Verteidigungsschrift. Vielmehr habe Natalie K. versucht, in der Haft Klarheit zu gewinnen und chronologisch zu beschreiben, was mit ihr beim Umgang mit den Behörden passiert sei. Die Lage habe sich schließlich sehr zugespitzt und zu dieser Kurzschlusshandlung geführt, als die Mutter fürchtete, dass man ihr die beiden Kinder wegnehmen wollte. "Was natürlich nicht in dem Sinne eine Erklärung ist, weil die Tat an sich ist jenseits des Denkbaren", sagte Jenny.

Einzigartiger dokumentarischer Text

Aus Sicht der Schriftstellerin und Herausgeberin handelt es sich um den einzigartigen Bericht einer Mutter, die ihre Kinder getötet habe. Es gebe eine solche Aufzeichnung in dieser nackten und authentischen Form bisher nicht, sondern nur in literarischer Form. Angesichts der breiten Berichterstattung in der Schweiz über diesen Fall, bei der sich so viele Personen zu Wort gemeldet hätten, sei es ihr ein Anliegen gewesen, dass auch die Täterin eine Stimme habe. "Deshalb wurde es veröffentlicht."
Die 1974 in Basel geborene Schriftstellerin Zoë Jenny wurde mit dem Roman "Das Blütenstaubzimmer" berühmt, der in 27 Sprachen übersetzt und mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Sie schrieb fünf Romane, einen Erzählband sowie ein Kinderbuch und verfasst Essays zu gesellschaftspolitischen Themen für Zeitungen im In- und Ausland. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Wien.

Natalie K.: Meine Geschichte beginnt in einem wunderbaren Dorf. Die Aufzeichnungen einer Kindsmörderin
Herausgegeben von Zoë Jenny
Salis Verlag, Zürich 2017
128 Seiten, 22 Euro

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