Der doppelte Gipfel

Von Wolfgang Herles · 03.06.2007
Gewiss doch, dieses Gipfeltreffen ist eine Provokation. Es provoziert den gesunden Menschenverstand. Wie kann es angehen, dass der Kurzzeit-Aufenthalt einiger Staats- und Regierungschefs an einem stillen Stück Ostseeküste Abermillionen Steuermittel verschlingt und die Bewohner der Gegend schikaniert? Haben die Verantwortlichen eigentlich noch alle Latten am Zaun?
Nein, dem kilometerlangen Schutzzaun aus Metall und Stacheldraht fehlt nichts. Doch muss offenbar auch er geschützt werden. Ein zweiter, vorgezogener Schutzwall besteht aus Tausenden von Polizeibeamten. Er provoziert jene, die nach Heiligendamm reisen, um zu demonstrieren. Es ist ihr gutes Recht. Trotzdem mussten sie es sich erst vor Gericht erstreiten. Der Eindruck entsteht, als habe der Sicherheitswahn den Protest erst richtig aufgeputscht. Eine Hysterie folgt der anderen.

Die Demonstranten erwartet ihrerseits eine Demonstration. Polizei und Politiker zeigen den Leuten, was der Staat noch immer kann: Obrigkeit sein. Umgekehrt erinnern die Untertanen der Obertanen daran, wie ohnmächtig sie in Wahrheit sind. Ein paar tausend Demonstranten auszusperren ist keine Kunst. Gegen die etwas größeren Probleme der Welt richten sie wenig aus.

So bietet auch die demonstrative Selbstdarstellung der Staats- und Regierungschefs nicht viel mehr als Parolen. Wir helfen Afrika. Wir verhindern die Klimakatastrophe. Wir machen die Globalisierung menschlich.

Die Transparente der Leute vor dem Zaun fordern nichts anderes. Hilfe für Afrika, Klimaschutz, Zügel für den Kapitalismus. Der Unterschied ist nur, dass die Demonstranten vor dem Zaun den Politkern hinter dem Zaun das nicht zutrauen, ja, ihren guten Willen bezweifeln.

Das Misstrauen gegenüber den Reklamesprüchen der Politik ist verständlich. Ein kurzes Gipfeltreffen kann die Welt nicht verändern und jahrzehntelange Fehlentwicklungen nicht ungeschehen machen. Auch dieser Gipfel ist nicht viel mehr als die Wiederholung eines gespreizten Rituals. Was zustande kommen kann, sind Absichtserklärungen. Das Ereignis ist kaum mehr als ein Symbol.

Immerhin: ein Symbol für die richtige Politik. Denn auch wenn nicht genug herauskommen wird für Afrika, das Klima, und den Schutz vor kapitalistischen Heuschrecken: Ein Gipfel ist immer noch besser als kein Gipfel. Dass die Verantwortlichen der stärksten Staaten der Welt regelmäßig miteinander reden, ist notwendig und selbstverständlich. Gut, sie könnten das unauffälliger tun, mit weniger Brimborium, auf einem großen Schiff, einer abgelegenen Insel oder in einem schwer zugänglichen Alpental. Aber die da in Heiligendamm miteinander reden, sind nicht die wirklichen Feinde der Demonstranten und nicht die Feinde der Menschheit.

Warum sind sie aber dann das Ziel der Protestbewegung? Womöglich verhält sie sich spiegelbildlich ganz ähnlich wie die Politiker. Auch sie versammelt sich zu einem inzwischen vertrauten Ritual. Auch sie inszeniert Symbole. Beide Protagonisten der Gipfelschau spielen vor demselben Publikum: Der Weltöffentlichkeit, die mit Tausenden von Medienvertretern sowohl vor wie hinter dem Zaun präsent ist. Die nach symbolträchtigen Bildern sucht. Den Gesten der Politiker, den mehr und weniger intelligenten Kunstaktionen unter den Protestanten. Und immer wieder der dämliche Zaun. Er ist schon jetzt das Symbol dieses Gipfels. Das schlechteste Symbol, das sich denken lässt, aus der Sicht der Politiker. Die Demonstranten müssten dankbar sein. Der Zaun spielt ihnen in die Hände. Sie haben ihn nötiger als die Polizei. Der Zaun liefert genau die Bilder, die sie verbreitet haben möchten – vorausgesetzt es bleibt einigermaßen friedlich.

Dieser Gipfel ist gewissermaßen ein doppelter Gipfel. Im Grunde brauchen Gipfelpolitiker und Gipfeldemonstranten einander. Sie steigern gegenseitig die Aufmerksamkeit. Ihre Konfrontation gibt diesem Ritual Bedeutung und Aufmerksamkeit. Beide helfen einander, vergessen zu machen, wie wenig sie ausrichten.

Es ist sinnlos, die Globalisierung zu verteufeln. Sie ereignet sich wie ein Naturereignis. Niemand kann sie stoppen. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Revolution in der Informationstechnologie fielen Grenzen, schrumpften Raum und Zeit. Die Globalisierung ist weit mehr als nur der Siegeszug des Kapitalismus. Sie erfasst alle Kulturen der Welt. Erstmals erkennt zumindest der aufgeklärte Teil der Menschheit, dass er gemeinsame Interessen hat. Das ist globaler Fortschritt.

Die Menschheit ist, wie sie der Soziologe Ulrich Beck nennt, zu einer Weltrisikogemeinschaft zusammengewachsen. Gemeinsame Ängste vor der Klimakatastrophe, vor Terror und Armut werden ein neues, weltbürgerliches Bewusstsein schaffen. Die Zeit wird kommen, da sich auch Politiker verschämt an die untauglichen und kleinmütigen Anfänge der Weltpolitik zurückerinnern werden, an Gipfel wie den in Heiligendamm. Und auch die neuen Protestbewegungen werden reifen und zu wichtigen Mitspielern der Weltinnenpolitik werden.

Sehen wir also diesen doppelten Gipfel auf beiden Seiten als Randerscheinung. Beide, die vor und die hinter dem Zaun, verfehlen das, was Globalisierung bedeutet und was sie der Welt noch bescheren wird.

Wolfgang Herles studierte Neuere deutsche Literatur, Geschichte und Psychologie in München. Nach seiner Promotion 1980 und dem Besuch der Deutschen Journalistenschule war er zunächst Korrespondent für den Bayerischen Rundfunk in Bonn und Redakteur des TV-Magazins "Report". Von 1987 an leitete er das ZDF-Studio Bonn und moderierte später auch die ZDF-Talkshow "Live". Er ist jetzt Leiter des ZDF-Kulturmagazins "aspekte".
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