Der Dieb in der Zeitung

Von Jürgen Bräunlein · 17.03.2008
"Tageszeitung für die Damen" hieß das britische Blatt noch, als es zum ersten Mal erschien. Das war ein Flop. Dann wurde daraus die britische Boulevardzeitung "Daily Mirror", die auf mutige, auch mitunter skrupellose Bilder setzte. Der Erfolg war überwältigend - vor allem als die Ausgabe vom 17. März 1908 erstmals ein Fahndungsfoto veröffentlichte.
Aufsehenerregend, umstritten, aber auch innovativ ist die britische Boulevardzeitung "Daily Mirror" von Beginn an. Als sie im November 1903 zum ersten Mal erscheint, trägt sie den Untertitel "Tageszeitung für Damen" - und floppt grandios, wie Alfred Harmworth, der Gründer der Zeitung, später selbstkritisch einräumt:

"Man sagt, dass Frauen nie genau wissen, was sie wollen. Sicher aber ist, was sie nicht wollen. Sie wollten den Daily Mirror nicht."

Innerhalb weniger Monate krempelt Harmworth seine Zeitung komplett um. "Männliche" Themen wie Politik und Wirtschaft rücken ins Blatt, Artikel über Kochkunst und Mode verschwinden fast völlig, Der Verkaufspreis wird halbiert. Doch die wichtigste Neuerung betrifft das Abspecken der Textmassen.

"Wir füllten das Blatt mit einer Menge von Bildern, und vor allem Fotografien, und guckten, was jetzt passiert."

Die Fotografie ist zu diesem Zeitpunkt noch ein relativ junges Medium, die Daguerreotypie wurde 1839 erfunden, doch erst seit Ende des Jahrhunderts erobern Fotos die Tagespresse. Beim "Daily Mirror" erkennt man die Chance. Mutige, auch skrupellose Fotografen knipsen im Auftrag der Zeitung Schiffskatastrophen mit Toten und Adelige mit Möpsen, Prominente im Bikini und rumorende Arbeiter in Fabriken.

Als das Blatt im April 1904 Bilder von König Eduard VII. im Kreise seiner Familie zeigt, stehen die monarchie-begeisterten Briten Kopf. Die Ausgabe wird ein Kassenschlager. Nur sechs Monate nach der Neukonzeption hat sich die Auflage der Zeitung versiebenfacht.

"Erstaufnahmen – Exklusivbilder für den MIRROR"

ist jetzt immer häufiger unter den Fotografien zu lesen, die der "Daily Mirror" abdruckt. Schneller als jede andere Zeitung im Land gelingt es der Redaktion, die Bilder des Tages ins Blatt zu bekommen.

So staunen die Leser nicht schlecht, als sie die Ausgabe vom 17. März 1908 in ihren Händen halten. Sie lesen von einem Mann, der einen Juwelierladen in Paris ausgeraubt hat und sich auf dem Weg nach London befinden soll. Der mutmaßliche Verbrecher wird nicht nur vage beschrieben, abgedruckt ist auch eine Fotografie von ihm – in bemerkenswert guter Qualität. Es handelt sich um das erste Fahndungsfoto, das jemals in einer regulären Tageszeitung veröffentlicht wurde.

"Eine Sensation der modernen Technik!"

jubelt die Konkurrenz. Das Foto des Diebes, das man in Paris gemacht hat, wurde nach London per Bildtelegraf übermittelt. Der Bildtelegraf, das Vorgängermodell des Faxgeräts, ist zu diesem Zeitpunkt erst zwei Jahre alt. Die Übertragung nahm nicht länger als 12 Minuten in Anspruch.

Neu ist auch die Einbindung der Bevölkerung in die Personenfahndung. Bisher gibt es nur plakatierte Steckbriefe und Fahndungsfotos in speziellen Polizeiblättern. Doch beides wird wenig beachtet und gelesen. Erst dem Massenmedium Zeitung gelingt es, die Menschen zu motivieren, bei der Suche nach Kriminellen zu helfen.

Im Fall des Pariser Juwelendiebes hat das Fahndungsfoto im "Daily Mirror" einen durchschlagenden Erfolg. Bei seiner Ankunft in London kann der Räuber sofort festgenommen werden. Ein britischer Gastwirt erkannte den Mann aus der Zeitung und verständigte die Polizei. Der Einsatz von Fahndungsfotos in Zeitungen wird in den folgenden Jahren nicht nur in England zur Regel und bewährt sich: Die Aufklärungsquote bei Verbrechen nimmt deutlich zu.

Wie leicht sich mit solchen Fotos auch Emotionen schüren lassen, zeigt der "Daily Mirror" in der Ausgabe vom 4. September 1939 - einen Tag nachdem Briten und Franzosen Deutschland den Krieg erklärt haben.

"Dringend gesucht wegen Mordes, Entführung, Diebstahl und Brandstiftung!"

heißt die Schlagzeile. Darunter sieht man zwei Fahndungsfotos von Adolf Hitler. Der Diktator erscheint wie der klassische Schurke aus dem Wilden Westen. Auf diese Weise stimmte der "Daily Mirror" die Briten auf den Zweiten Weltkrieg ein.