Der Bürger als Henker

Von Jochen Stöckmann · 16.01.2011
Als die Alliierten näher rücken, werden die Konzentrationslager evakuiert. Einen Fluchtort für die Gefangenen gibt es nicht. Im Gegenteil: Bei Massakern an den hilflosen, ausgehungerten Juden, Kriegsgefangenen oder Kommunisten war auch die deutsche Bevölkerung beteiligt.
Als Daniel Blatman vor über zehn Jahren von seinem Doktorvater Yehuda Bauer eine graue Archivmappe in Empfang nahm, ahnte der Historiker an der Jerusalemer Hebrew University nicht, was auf ihn zukommen würde: Bauer, Nestor der Holocaust-Forschung, schlug seinem Studenten die sogenannten "Todesmärsche" im letzten Kriegsjahr 1945 als Thema vor.

Seither hat Blatman weltweit recherchiert, hat in Archiven von Washington bis Warschau Gerichtsakten gewälzt und Zeugnisse jener ehemaligen KZ-Häftlinge eingeholt, die die Evakuierungsmärsche aus den Konzentrationslagern überlebt haben. Im Rowohlt-Verlag erscheint die Studie nun auf Deutsch - und der israelische Historiker kommt zu verstörenden Ergebnissen: Bei Massakern an den hilflosen, ausgehungerten Juden, Kriegsgefangenen oder Kommunisten war auch die deutsche Bevölkerung beteiligt. Wie es dazu kommen konnte, auf diese Frage hat die Geschichtsforschung noch keine eindeutige Antwort.

Auf Menschenjagd gingen Volkssturmmänner und Hitlerjungen in Celle, auch in Lüneburg machten Bürger mit beim Morden: Sie erschossen und erschlugen Hunderte von KZ-Häftlingen, die im Frühjahr 1945 bei der Evakuierung der Lager im Osten auf sogenannte "Todesmärsche" quer durch Deutschland geschickt worden waren. In Gardelegen bei Magdeburg wurden mehr als 1000 Häftlinge bei lebendigem Leibe in einer Feldscheune verbrannt, als alliierte Truppen heranrückten:

Insbesondere in Fällen wie Gardelegen machte sich die deutsche Gesellschaft zum Teil des Terrorapparats. Der Krieg war auf einmal direkt vor der Haustür, der Staat konnte keine Sicherheit mehr garantieren, damit veränderte sich das Verhalten völlig. Sie waren Opfer, aber sie begingen auch schreckliche Verbrechen.

Gerichtsverfahren, in denen einige der Täter nach 1945 zur Rechenschaft gezogen wurden, hat Daniel Blatman aufgearbeitet, dazu die Zeugnisse der Überlebenden ausgewertet. Und der israelische Historiker kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass die Mörder des letzten Kriegsjahres 1945 nicht allein in den Reihen von SS und Wehrmacht zu suchen sind.
Der Verwaltungsapparat des Dritten Reichs war zusammengebrochen, die "Schreibtischtäter" hatten sich davongemacht.

Kleine Trupps niedriger SS-Chargen mussten Transporte von mehreren tausend Häftlingen übernehmen. Oft nur notdürftig bewacht, stellten diese Kolonnen abgerissener Elendsgestalten zwischen Flüchtlingstrecks und zurückflutenden Armeen ein Hindernis dar – also wurden sie ohne weiteren Befehl beseitigt. Hatte Heinrich Himmler als oberster SS-Führer anfangs noch darauf gedrungen, dass auf jeden Fall die "Arbeitskraft" der Häftlinge erhalten werden müsse, war nun selbst diese perfide Logik der sogenannten "Endlösung" außer Kraft gesetzt:

Die Evakuierung der Konzentrationslager wurde bislang geschildert als Schlusskapitel, als Epilog. Aber all das passierte außerhalb des Lagersystems, unter ganz anderen Bedingungen. Was tatsächlich geschah in den letzten Wochen vor der Kapitulation, das ist noch immer wenig erforscht.

Und auch Blatman - oder zumindest seinem deutschen Übersetzer - fehlen hin und wieder die adäquaten Begriffe: "In freier Wildbahn, in irgendeiner Ecke des zerfallenden Reiches", so heißt es wörtlich, hatten der einfache KZ-Aufseher, ein biederer Volkssturmmann und sogar der kindliche "Pimpf" der Hitlerjugend plötzlich Macht über Tod oder Überleben von KZ-Häftlingen.

Und dabei wurden sie nicht allein – wie der Soziologe Daniel Jonah Goldhagen in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" behauptete – von einem "eliminatorischen Antisemitismus" geleitet: Unter den 250.000 im letzten Kriegsjahr ermordeten Häftlingen waren Juden oder Sinti und Roma ebenso wie Kriegsgefangene oder Kommunisten. Sie alle wurden – außerhalb von Lagerzaun und Stacheldraht - von der deutschen Bevölkerung als Bedrohung, als anders und fremdartig, als unkontrollierter "Mob" wahrgenommen.

Das waren eben "die anderen". Diese Botschaft hatte die Gesellschaft verinnerlicht. Aber was die Deutschen nun taten, sahen sie nicht als Teil der Nazi-Gräuel, sondern als Verteidigung ihrer Familien, als bloßen Schutz ihres Eigentums.

Keineswegs nur die Übernahme der Nazi-Ideologie, sondern ein Gemenge ganz unterschiedlicher Motive führte zu jenem hemmungslosen Morden, das Daniel Blatman in vielen Details recherchiert und beschreibt, ja: anschaulich macht.

Eines dürfte nach der Lektüre dieses Buches klar sein: Die Frage, ob ein ganz gewöhnlicher Bürger dem vorbeiziehenden KZ-Häftling im Frühjahr 1945 einen Kanten Brot zukommen ließ, ihm gar Unterschlupf gewährte oder aber zum Henker wurde, bildet den entscheidenden Lackmustest dafür, wie stark die deutsche Zivilgesellschaft, wie sehr soziales Verhalten überhaupt zerfressen war durch zwölf Jahre Gewaltherrschaft.

Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45 - Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords
Rowohlt Verlag , Reinbek 2011
864 Seiten, 34,95 Euro