Der berechnete Geschmack

Von Marko Pauli · 22.08.2012
Britische Wissenschaftler haben eine Software entwickelt, die vorhergesagt, ob ein Musikstück ein Top-Hit wird. Die Erfolgsquote der Vorhersagen beträgt 60 Prozent - was nicht wenig ist für eine Prognose, die nur auf einer Musikdatei basiert.
Die Software Score-A-Hit sagte voraus, dass dieser Song ganz oben in den britischen Charts landen wird. Und Recht hatte sie. Der Rechner entdeckte in ihm die typischen zeitgenössischen Merkmale erfolgreicher Popmusik. Tijl De Bie kennt sie, er ist Professor für Künstliche Intelligenz in Bristol und hat die Software mitentwickelt.

"Heutzutage ist die Tanzbarkeit wichtig, dazu die Lautstärke. Und seit einigen Monaten scheint es auch, dass der Sound nicht so sauber sein sollte, nicht so harmonisch."

In der Künstlichen Intelligenz, kurz KI, wird versucht, mit Rechnerprogrammen Leistungen zu erbringen, die beim Menschen Intelligenz erfordern. Bei diesem Projekt kam Maschinelles Lernen, ein Zweig der KI-Forschung, zum Einsatz. Ein Computersystem lernt hier aus Beispielen und kann daraus Gesetzmäßigkeiten erkennen. Bevor die Software also eine Prognose für einen Song treffen kann, untersucht ein Algorithmus zunächst Tausende von Songs.

"Wir füttern unser System mit allen möglichen Hits und Nicht-Hits einer bestimmten Zeit. Das System lernt dann aus diesen Beispielen."

Vorher haben die Wissenschaftler eine Liste von 23 Audioeigenschaften bestimmt, die der Computer dann aus den Songdaten entschlüsselt, z.B. Tempo des Songs, Rhythmus-Variationen oder Harmonizität. Die Gewichtung der Eigenschaften wird errechnet, ganz oben stehen also derzeit die genannten Eigenschaften, unten die, die nicht erfolgversprechend sind, z.B. einfache Harmonien. Nun werden Werte dieser allgemeinen Liste mit den Werten multipliziert, die ein Song erzielt, dessen Hit-Potential ermittelt werden soll, aus der Addition aller Ergebnisse ergibt sich dann die Hit oder Nicht-Hit Punktzahl.

Auch Musik vergangener Zeiten wird in den Computer geschickt. Hierfür muss in den Formeln und Gleichungen die Gewichtung der Eigenschaften angepasst werden, denn der Musikgeschmack ändert sich mit der Zeit.

"Bei Popmusik der späten 70er- und frühen 80er-Jahre hat die Software Schwierigkeiten, die Hits zu erkennen. Die Merkmale der kommerziell erfolgreichen Musik dieser Zeit waren sehr uneinheitlich, viele kreative Strömungen anscheinend massenkompatibel. Von den 80ern aufwärts wurde es dann plötzlich immer wichtiger, dass man zum dem Song tanzen konnte – was zuvor kaum keine Rolle spielte. Konstant durch alle Popmusik-Zeiten ist, dass eine große Lautstärke von Vorteil ist, wenn man einen Hit erzielen will."

60 Prozent beträgt die Erfolgsquote für die Vorhersage, ob ein Song ein echter Hit wird. Keine schlechte Quote, aber weit davon entfernt, verlässlich zu sein. Doch darum geht es Tijl de Bie auch gar nicht.

"Ich würde es ein wissenschaftliches Spielzeug nennen, und hauptsächlich etwas, womit wir unsere Forschung bekannt machen können."

Das Maschinelle Lernen findet heute vielfältigen Einsatz, beispielsweise bei der Vorhersage von Kundenverhalten, dem Steuern eines Roboters oder auch der Erkennung von Objekten. So kann man beispielsweise aus dem Bewegungsprofil einer großen Menschengruppe Folgen für ihr Verhalten ziehen, sagt Bernd Neumann, Professor für Informatik an der Hamburger Uni und Leiter des dortigen Labors für Künstliche Intelligenz.

"Das hat deshalb besonders Bedeutung, weil wir mittlerweile so komplexe Zusammenhänge in den Rechner bringen können, die wir nicht mehr programmieren können, z.B. das Erkennen von Randale auf einem U-Bahnhof oder so. Das sind dann nicht einzelne Schnappschüsse, die das sagen, sondern Kurzvorgänge, wo Sie sehen, dass da Leute vielleicht in entgegen gesetzter Geschwindigkeit aufeinanderprallen. Das ist auch Stand der Forschung und das versucht man auch durch Lernen hinzukriegen."

Auch in der Robotik kommt Maschinelles Lernen zur Anwendung. Doch gerade dort werden die Grenzen der Künstlichen Intelligenz sichtbar, insbesondere dann, wenn der Roboter auf komplexe und sich verändernde Situationen trifft.

"Wenn da Menschen über Jahrzehnte lernen etwas zu tun, wie man in einem Haushalt mit alltäglichen Dingen umgeht, so ist das nicht zu erwarten, dass durch einen sehr einfachen Lernvorgang, dass ein Roboter das im Nu kann. Wenn wir Roboter programmieren, dann findet das immer in einem sehr begrenzten Zeitraum statt. Es gibt noch keine Roboterprojekte, wo ein ganzes Lebensalter an einem Roboter nachvollzogen wird. Da sind Lernverfahren die einzige Möglichkeit, diese Komplexität vom Menschen wegzubringen, der das nicht schaffen kann."

Komplex ist auch die Erwartung an Popmusik - auch wenn es vielleicht manchmal einen anderen Eindruck macht. Man müsse sich keine Sorgen machen, so Tijl de Bie, dass Musik durch die maschinelle Prognose verändert wird. Die Menschliche Kreativität bleibt für Maschinen vorerst unerreichbar.

"Die Software wird die Qualität der Musik überhaupt nicht beeinflussen. Dafür ist die Treffsicherheit der Prognosen nicht genau genug. Und selbst wenn sie es wäre und dadurch Musiker beeinflussen würde, wie sie Musik machen: Die Hörer wären schnell gelangweilt, und damit hätte sich die Software schon wieder erledigt, da die Musik dann gleich klingen würde, Menschen aber immer etwas Neues hören wollen."

Auf der Score-A-Hit-Website werden wöchentlich Prognosen für aktuelle Songs und ihre Platzierung in den britischen Charts abgegeben. Und wer selber Musik macht, der ist dort eingeladen, die eigene Musik aufs Hitpotential zu überprüfen. Das Ergebnis, so Tijl de Bie, sollte allerdings nicht all zu ernst genommen werden.
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