Der Beginn einer neuen Zeitrechnung im Ballett

Von Michael Stegemann · 25.06.2010
Die Pariser Uraufführung des Balletts "L'Oiseau de feu"/"Der Feuervogel" von Igor Strawinsky am 25. Juni 1910 war eine Sensation - eine Funken sprühende Musik, die in 1000 Farben schillerte und leuchtete, und eine märchenhafte Choreografie, wie sie damals nur die legendären "Ballets russes" des Impresario Sergej Djagilew auf die Bühnen zu bringen wussten.
Paris 1910. Die mittlerweile fünfte Saison russe, die der Petersburger Ballett-Impresario Sergej Djagilew am Théâtre de l'Opéra veranstaltet, gehört zu den absoluten Glanzpunkten im Musikleben der französischen Hauptstadt. An 14 Abenden (zwischen dem 4. und dem 30. Juni) stehen neun Ballette auf dem Programm, darunter als Novitäten Nikolai Rimsky-Korsakows Scheherazade, die "choreografische Skizze" Les Orientales und die Uraufführung eines Märchenballetts L'Oiseau de feu - "Der Feuervogel" -, zu dem Djagilews Choreograf Michail Fokin nach zwei russischen Volksmärchen das Libretto verfasst hatte.

"Eines Tages erblickt Prinz Iwan Zarewitsch auf der Jagd einen herrlichen, ganz in Gold und Flammen funkelnden Vogel. Er läuft ihm nach und gelangt so in das Reich des bösen Zauberers Kastchej, des Unsterblichen, der 13 Prinzessinnen gefangen hält. Mithilfe des Feuervogels kann Iwan den Zauberer besiegen; Kastschejs Schloss versinkt im Boden, und der Zarewitsch führt die schönste der befreiten Prinzessinnen als Braut auf sein Schloss."

Ursprünglich sollte (der heute kaum mehr bekannte) Anatoli Ljadow die Musik zu Fokins Libretto schreiben; als der jedoch nach Monaten noch keine einzige Note geliefert hatte, wandte sich Djagilew kurzerhand an einen 27-jährigen, noch völlig unbekannten Petersburger Komponisten, einen Schüler Rimsky-Korsakows: Igor Strawinsky. Es war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft - und einer einzigartigen Zusammenarbeit.

Die Premiere des Feuervogel am 25. Juni 1910 wird ein Sensationserfolg: Gabriel Pierné leitet das Orchester, Alexander Golovin und Leon Bakst haben Bühnenbild und Kostüme entworfen, Tamara Karssawina tanzt die Titelrolle. Und Strawinskys Musik leuchtet, schillert, funkelt und sprüht Klangfunken und -farben, wie man sie noch nie gehört hat.
"Er hatte einfach einen unglaublichen Sinn fürs Theater", "

erinnerte sich später Leon Bakst.

" "Wo andere Komponisten sich nur für ihre Musik interessieren, konnte man mit Strawinsky stundenlang über Malerei, Architektur, Bildhauerei und Tanz reden; ein Wort genügte, und er wusste sofort, was wir für unser Ballett brauchten."

Nach dem ersten Triumph folgen bis 1928 sieben weitere Werke für Djagilew und seine "Ballets russes": Petruschka, der skandalumwitterte Sacre du printemps, Le Rossignol, Pulcinella, Le Renard, Les Noces und Apollon musagète. Der Feuervogel aber bleibt der Beginn einer neuen Zeitrechnung der Ballett- und Musikgeschichte: Romantik ade - es lebe die Moderne!