Der 9. Oktober 1989 in Erfurt

Ganz viel neue Hoffnung

29:58 Minuten
Ein moderner Anbau der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in einem ehemaligen Stasi-Gefängnis ist in Erfurt in Thüringen mit Comic-Kunst verkleidet, aufgenommen im November 2011.
„Keine Gewalt!“: Der Demonstrationsruf half gegen die Angst der Oppositionellen vor der noch fast allmächtigen DDR-Staatsgewalt. © dpa-Zentralbild/Martin Schutt
Von Klaus Diederichsen · 09.10.2019
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Montag, 9. Oktober 1989 – das Neue Forum in Erfurt hat zum Dialog aufgerufen. Mutige DDR-Bürger äußern ihre Kritik am Regime. Autor Klaus Diederichsen, damals zu Besuch aus dem Westen und vor Ort, taucht mit uns noch mal ein in diese revolutionäre Zeit.
"... Provokationen, da diese Provokationen zur Rechtfertigung eines harten Kurses dienen, und wir müssen allen unseren existentiellen, potentiellen Verhandlungs- und Gesprächspartnern die Möglichkeit geben, wir müssen ihnen auch die Möglichkeit einräumen, ihr Gesicht zu wahren!"
Der Moderator erinnert daran, dass das Neue Forum zum Dialog aufgerufen hat: Allen potentiellen Gesprächspartnern müsse die Möglichkeit eingeräumt werden, ihr Gesicht zu wahren!
Montag, 9. Oktober 1989: Ich sitze mitten in der Menge in der überfüllten Predigerkirche in Erfurt unter tausenden DDR-Bürgern, mutigen DDR-Bürgern, über uns die halligen gotischen Kirchenkuppeln.
"Und ich möchte nicht zuletzt konkret heut‘ Abend darauf hinweisen, am Anger und im gesamten Stadtgebiet, so bin ich informiert, stehen Wasserwerfer… bitte..."
Der Moderator warnt: Im gesamten Stadtgebiet stünden nach seinen Informationen Wasserwerfer bereit:
"Bitte hört nicht auf falsche Stimmungsmacher"
Der Moderator warnt vor einer Gewaltspirale und erntet dafür kräftigen Applaus. Auch die Männer mit dem Knüppel hätten Angst.
"Denkt daran, dass die Männer, die im Moment Knüppel in der Hand haben, selbst Angst haben!"
Demokratisierung der DDR, das ist die zentrale Forderung an das SED-Regime.
"Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten... Freilassung der Inhaftierten..."

"Für uns ist die Wiedervereinigung kein Thema"

Die Menschen in der Kirche haben ihre Angst offenbar überwunden, zumindest hier im Schutz der Menge. Obwohl in der Kirchenbank vor mir, direkt vor meiner Nase, zwei auffällig unauffällige Stasimitarbeiter in ihrem blau-grauen Einheitslook sitzen. Ich zum Glück dahinter, das Mikrofon im Ärmel, das Tonbandgerät in der Jackentasche versteckt.
Echte Wahlen, geheim und frei, unter UNO-Kontrolle, Menschenrechte, Freilassung der politischen Gefangenen, deren Zahl gerade explodiert: die Tabus der SED werden hier gebrochen.
"Sie muss geheim sein, dass heißt die Wähler sind verpflichtet, eine Wahlkabine zu benutzen..."
Blick durch das Tor des Predigerklosters auf den Kirchturm der Predigerkirche in Erfurt, aufgenommen im März 2015
Die Predigerkirche in Erfurt – hier trug das Neue Forum seine Forderungen nach Reformen vor.© imago/Karina Hessland
9. Oktober 1989, 20.30 Uhr. Während in der Predigerkirche in Erfurt die Forderungen des Neuen Forums vorgetragen werden, sind in Leipzig, gut 150 Kilometer entfernt, 70.000 Menschen auf die Straße gegangen, ohne dass die Sicherheitskräfte eingreifen. Sie fordern: Reformen in Richtung eines wahrhaft demokratischen Sozialismus – in der DDR! Ähnlich in Erfurt.
"Sie muss frei bleiben, das heißt: niemand darf durch Druck zu einem bestimmten Wahlverhalten genötigt werden..."
Wenn Reformen in der DDR verlangt werden, dann schwebt trotzdem die Frage nach der Wiedervereinigung im Raum! Sie wird offen angesprochen.
"Für uns ist die Wiedervereinigung kein Thema...."
Veränderungen hier! Werner Brunngräber, einer der Gründer in Erfurt, verliest einen Offenen Brief des Neuen Forums.
"... da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben. Wir wollen Veränderungen hier durchführen!"
Werner Brunngräber, damals 24 Jahre alt, evangelischer Diakon. Ich treffe ihn vier Tage nach dem 9. Oktober in seiner Privatwohnung. Da hatte er gerade das Erfurter Neue Forum bei den lokalen Behörden angemeldet, als freie Bürgerinitiative. Der enorme Zulauf zur Opposition kam für Werner Brunngräber damals völlig überraschend.

Diakon Werner Brunngräber im Gespräch mit dem Autor am 13. Oktober 1989:
"Da ist was ganz Komisches passiert: es gab keine Werbung, es gab keine Plakate dafür, es ist in den Medien nicht verkündet worden, es gab auch keine Werbung in kirchlichen Schaukästen, es hat sich nur herumgesprochen. Die Veranstalter wollten über gesellschaftliche Fragen sprechen und haben daran gedacht, dass da 20 bis 30 Menschen zusammenkommen. Um 20 Uhr sollte das beginnen, und bereits eine halbe Stunde vorher waren circa 800 Leute da!"
"Wie war denn so die Stimmung?"
"Ich denke, die Stimmung war für jemanden, der da mitten in der Masse stand: Wir haben Kraft. Es ist erstaunlich, dass wir so viele sind!"
"Wie war das nun für Dich?"
"Für mich war das ungeheuer aufregend. Und ich habe gedacht: jetzt passiert etwas in diesem Land, sowas habe ich noch nie erlebt. Das war `was Ungeheures. Das war `was vollkommen Neues und dass dann plötzlich so eine Offenheit und so viel Zivilcourage aufbrach, das war das Erstaunliche. Eine gezielte politische Veranstaltung, sowas hab‘ ich vorher noch nie erlebt!"
"Was hat sich da verschoben?"
"Ich denke, es gibt auf den ersten Blick zwei Gründe: der eine Grund ist der, dass viele Menschen über Ungarn oder über die Botschaften in Prag und Warschau versuchen, das Land zu verlassen und in der BRD zu wohnen. Das hat solche Ausmaße angenommen, dass es, glaube ich, keinen DDR-Bürger gibt, von dem nicht irgendein Bekannter ausgereist ist oder geflüchtet ist."
"Das ist so täglicher Gesprächsstoff?"
"Ja und dass dieses Thema öffentlich nicht behandelt wird, die Gründe, warum gehen Menschen hier weg, also weder in den Medien, noch in irgendeiner anderen Form, dass das also öffentlich, also offiziell, nicht spürbar wird, das löst Unmut aus, da muss doch darüber gesprochen werden, warum das so ist!"

Etwa 100.000 DDR-Bürger waren bereits bis zum Sommer `89 aus der DDR ausgereist, legal mit Ausreiseantrag oder illegal, zum Beispiel über die geöffnete grüne Grenze in Ungarn. Anfang Oktober `89 gelang tausenden die Ausreise über westdeutsche Botschaften in Warschau und Prag: Diese gewaltige Ausreisewelle wurde in den DDR-Medien noch weitgehend verschwiegen oder denunziert, genau wie die friedlichen Bürgerproteste.
Wie wenig das half, hörte man bei den Wortmeldungen in der Erfurter Predigerkirche:
"Mir geht`s eben ganz besonders darum, was unsere Presse über unsere Aktionen, über die Aktionen derjenigen aussagt, die sich Gedanken machen, dass es totgeschwiegen wird, dass es deklassiert wird, falsch dargestellt wird, so viele Asoziale und Kriminelle gibt es ja gar nicht!"
Nicht enden wollender Applaus – man spürt die befreiende Wirkung des offenen Wortes.
"Ich möchte hier meinen eindeutigen Protest klarmachen: ich halte nichts von der sensationslüsternen Masse der westlichen Medien! Aber sie wird so lange unsere Informationsquelle bleiben, wie unsere Medien sich nicht entscheiden, über die Situation, die Probleme des Landes zu berichten. Die Unfähigkeit der staatlichen Organe zu lernen, bewegt mich dazu, mich hier ganz klar und eindeutig zu den Befürwortern und Mitarbeitern des Neuen Forums zu erklären, heute Abend!"

Gemeinsames befreites Lachen

Dörte Henning, die Sprecherin der Arbeitsgruppe Presse im Erfurter Neuen Forum, greift die Propagandamaschine der SED scharf an. Nach fast jedem ihrer Sätze befreiender Applaus und am Ende gemeinsames befreites Lachen:
"Es ist notwendig, die Art der Berichterstattung zu verändern. Dazu gehört, Feindbilder abzubauen, die Sprache des Kalten Krieges zu vermeiden, sowie gezielte Desinformation und Angstmacherei zu unterlassen! Dabei denken wir auch an Kinderzeitungen!
Die bewusste Verdummung muss ein Ende haben! Die durch Partei und Regierung zensierte Presse müssen durch eine unabhängige Presse ersetzt werden, welche ein vielfältiges Meinungsspektrum widerspiegelt. Westmedien sollen nicht Erstinformationen, die die DDR betreffen, verbreiten können. Dazu ist es notwendig, Informationen von allgemeinem Interesse nicht zu verschweigen, zum Beispiel Umweltdaten. Menschenrechte sind keine inneren Angelegenheiten. Widersprüche müssen offen diskutiert werden.
Ursachen an Missständen dürfen nicht im Ausland gesucht werden, die Kritik muss im eigenen Land beginnen! Für Interessenten für diese Arbeitsgruppe: Das nächste Treffen ist am Dienstag, also morgen, 10.10., um 20.00 Uhr, hier drüben im Gemeindehaus, das ist gegenüber in der rechtslinken Tür rein, 1. Etage, oberste Klingel!"
Basisdemokratie war einer der Schlüsselbegriffe der DDR-Opposition im Herbst 1989. Das Neue Forum verfolgte damit eine pragmatische, gleichsam realpolitische Strategie, weil auch kritische SED-Mitglieder angeworben werden sollten. Die offenen Diskussionsforen über die Zukunft der DDR wie in der Predigerkirche nahmen linientreuen SED-Politikern den Wind aus den Segeln, wie auch der Demonstrationsruf "Keine Gewalt!".
"Keine Gewalt!": Das wirkte gegen die Angst vieler Uniformierter mit dem Knüppel in der Hand und gegen die eigene sehr berechtigte Angst der Oppositionellen vor der noch fast allmächtigen DDR-Staatsgewalt!

Werner Brunngräber, der damalige Diakon, im Gespräch mit dem Autor:
"Ich habe natürlich auch Angst, kann also nicht sagen, dass ich angstfrei bin, wobei meine Angst, wenn ich zum Beispiel so eine große Veranstaltung erlebe und merke, es sind also nicht nur 20 oder 30, die ähnliches wollen wie ich, sondern ein paar tausend, auch wenn man da differenzieren muss, das gibt mir Kraft, meine Angst zu überwinden."
"Wie ist das für Dich? Hast Du dann auch `mal schlaflose Nächte?"
"Ja, ich habe schlaflose Nächte oder ich hab` schon zweimal in den letzten Wochen davon geträumt, verhaftet zu werden, zum Beispiel. Es ist also nicht so, dass ich das überwunden habe. Und ich glaube auch die Leute, die vor dem Mikrofon sprechen und die ihren Namen und ihre Adresse sagen, haben das nicht überwunden, diese Angst, sie haben nur Kraft, sich mit dieser Angst auseinanderzusetzen."
"Also ich habe ‘mal den Begriff gehört: Stasi-Neurose. Würde das darauf zutreffen? Eine Neurose ist das ja eigentlich nicht?"
"Ich denke, es gibt auch eine Art Stasi-Neurose, dass man also hinter jedem Betonpfeiler und hinter jeder Litfaßsäule gleich Staatssicherheitsbeamte sieht mit Richtmikrofon und dass man in jeder Wohnung unter dem Tisch Wanzen sucht, diese Angst kann sich manchmal breitmachen. Oder dass sich auch in kirchlichen Gruppen die Angst breitmacht, der oder der könnte ein Spitzel der Staatssicherheit sein oder ein Zuträger und dass man dann gegenseitig so, dass es ein heimliches Misstrauen gibt. Das würde ich als Stasineurose bezeichnen."

Nach der Maueröffnung erfuhr Werner Brunngräber durch die Öffnung seiner Stasi-Akten, dass in der Gründungsgruppe des Neuen Forums Erfurt zwei von 18 Mitgliedern Stasi-Spitzel waren. Die Provinz-Opposition müsse in der Regel noch vorsichtiger agieren als die Großstadtopposition, sagte Werner Brunngräber. Die Erfurter Kirchen boten 1989 Schutz gegen Zuführungen, wie Verhaftungen damals offiziell hießen, gegen Wasserwerfer und Schlagstockeinsätze.
"Ich denke aber, in Erfurt ist die politische Führung auf einem relativ harten Kurs, und sie ist nicht demonstrationsgewohnt, und es gäbe jetzt zwei Möglichkeiten: die eine Möglichkeit - die politische Führung an Demonstrationen gewöhnen - das würde erst mal zu sehr harten Gegenmaßnahmen führen, davon bin ich überzeugt, also zu sehr vielen Zuführungen, zum Einsatz sicherlich auch von Wasserwerfern und ähnlichem und von Schlagstöcken. Und ich denke, dass eine Demonstration in Erfurt im Moment etwas wäre, was den harten Kurs gegenüber uns rechtfertigen würde."
Am Sonnabend, dem 7. Oktober 1989 - dem Nationalfeiertag zur Gründung der DDR - und zwei Tage vor der historischen Montagsdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern auf dem Karl-Marx-Platz stehen Bürgerinnen und Bürger von Leipzig ganz ruhig auf dem Nikolaikirchhof vor der Nikolaikirche in Leipzig zusammen, der von Polizisten in alle Himmelsrichtungen abgeriegelt ist.
Die sogenannte "Spaziergangs-Demonstration" am 7. Oktober 1989, dem Nationalfeiertag zur Gründung der DDR, in Leipzig.© picture alliance / Volkmar Heinz/dpa-Zentralbild/ZB
Den harten Kurs hatte ich einige Tage zuvor am 40. Jahrestag der DDR in Leipzig an der Nikolaikirche am eigenen Leib erfahren: Ich wurde zum gejagten Demonstranten, als sich hunderte DDR-Bürger in lockeren Gruppen um die Nikolaikirche herum versammelten. Die Volkspolizei und Stasi behandelte die friedliche Versammlung, eigentlich eine Art politischer Innenstadt-Spaziergang zum DDR-Jahrestag, als illegale Zusammenrottung und scheuchte uns in einem Katz-und-Maus-Spiel von der Nikolaikirche zum Leipziger Hauptbahnhof.
Die "Spaziergang-Demonstranten" kehrten immer wieder zurück zur Nikolaikirche, dem zentralen Symbol des gewaltfreien Widerstands. Dann verhafteten vier Stasimitarbeiter in Zivil plötzlich, ohne Vorwarnung, vor meiner Nase völlig friedfertige Einzelpersonen aus der Menge und zwangen sie in Gefangenentransporter. Angststarre unter allen Umstehenden. Niemand griff ein, es gab nicht einmal verbale Proteste. Einen derartig großen Respekt vor der Staatsmacht kannte ich aus dem Westen nicht.

Panzerkolonne in Gotha

Einen Tag später, am 8. Oktober 1989, war ich in Gotha und traf zufällig auf eine Panzerkolonne auf dem Weg zur Verladung am Bahnhof. Ein Kradfahrer fuhr voran und winkte meinen Kleinwagen mit Westkennzeichen auf den Seitenstreifen der engen Pflastersteinzufahrt und die Schützenpanzer dröhnten an mir vorbei.
Mein Gedanke: Die Panzer fahren wahrscheinlich zum Einsatz gegen die Demonstranten auf der Montagsdemo in Leipzig. Das machte mir Angst. Statt die Montagsdemo in Leipzig besuchte ich lieber die Großversammlung des Neuen Forums in der Erfurter Predigerkirche, denn die blutige Niederschlagung der Studentenproteste in China Anfang Juni, die sogenannte "Chinesische Lösung" lag in der Luft.
"Diese Angst ist immer da, man hat die Bilder im Fernsehen verfolgt. Man hat die tagelangen Proteste dieser jungen Leute mit gesehen und hatte lange die Hoffnung, dass es tatsächlich auch zu einer Lösung im Interesse der Menschen in China gekommen wäre, dass diese Lösung damals nicht gesucht worden ist, sondern dass sich die Betonköpfe durchgesetzt haben, mit Gewalt, das hat betroffen gemacht, sicherlich hierzulande noch stärker als anderswo, weil wir ja die ähnliche Situation vor Augen hatten."
Von der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen: der DDR-Aufstand vom 17. Juni 1953 in Leipzig.
Von der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen: der DDR-Aufstand vom 17. Juni 1953 in Leipzig.© imago images / Photo12
Karl-Heinz Meißner, Jahrgang 1934, gehörte zur Opposition gegen das SED-Regime, er hatte als 19-jähriger den DDR-Aufstand vom 17. Juni 1953 in Leipzig selbst miterlebt.
"Ich war damals Student in Leipzig und musste mit ansehen, wie ein Mensch, ein Mann, etwa in einem Abstand von einem Meter neben mir, eine Schusswunde im Oberarm bekam, während der Demonstration. Das hätte auch mich treffen können!"
Der 17. Juni 1953, der Einmarsch in Prag 1968, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989 und Gerüchte um die einsatzbereiten Panzer zur Montagsdemo in Leipzig: diese Geschichten waren gegenwärtig, als am 9. Oktober 1989 tausende Menschen den Mut hatten, sich in der Erfurter Predigerkirche zu versammeln. Vor der Kirche wartete die Staatsmacht auf den Befehl zum Eingreifen, und in der Kirche löste zugleich die Forderung nach Entmilitarisierung der DDR-Gesellschaft Begeisterungsstürme aus.

"Forderung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung!"

Für die Arbeitsgruppe Wehrdienst des Neuen Forums sprach – immer wieder von tosendem Applaus unterbrochen – Ulrich Seifert.
"Unser zentraler Gedanke ist die Entmilitarisierung von Staat und Gesellschaft! Als Schwerpunkte haben wir in unserer ersten Gesprächsrunde erstmal gefunden:
Erstens Kindergarten, Beseitigen von Kriegsspielzeug!
... keine Feindbilder aufbauen und keine Idealisierung des Soldatentums und Militärs!
Als zweiten Punkt: die Oberschule und Erweiterte Oberschule. Abschaffung des Unterrichtsfachs Wehrerziehung!
Einführung des Unterrichtsfaches Friedenserziehung!
Forderung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung!"
Zum Abschluss der Vollversammlung des Neuen Forums Erfurt warnt der Moderator vor den einsatzbereiten DDR-Sicherheitsorganen vor der Kirchentür: nur bis zu drei Personen sollten sich zusammen auf den Nachhauseweg machen, da größere Gruppen als illegale Zusammenrottung gewertet werden könnten.
"Bitte macht auf dem Nachhauseweg Eure Nachbarn darauf aufmerksam, dass es nicht so leicht ist mit Provokationen. Wir wollen alle heil bleiben!"
Niemand in der Erfurter Predigerkirche konnte an diesem Abend des 9. Oktober `89 auf seinem Nachhauseweg wissen, wie es in der DDR am nächsten Tag weiterging. Bleiben und schweigen, bleiben und kämpfen oder doch lieber ausreisen, solange es noch irgendwie möglich ist? Sogar die Grenze zur Tschechoslowakei war ja von der SED geschlossen worden!

Der Erfurter Pfarrer Karl-Heinz Meißner im Gespräch mit dem Autor:
"Heute allein sind es also zwei Menschen gewesen, der eine ist illegal, wie es hier so heißt, über die ungarische Grenze verschwunden, und ein zweiter, der inzwischen seine jahrelang beantragte Ausreise bekommen hat und der nun auch morgen gehen wird: zwei, die wieder fehlen! Es gehen Freunde, es gehen Gesprächspartner, es gehen Menschen, mit denen man Stunden verklönt hat, Kollegen, mit denen man sich verstanden hat, die einem als Gegenüber fehlen, die einen korrigiert haben, die einem Anregungen vermittelt haben. Man lebt mit einem Mal nicht mehr etwa nur mit einer Mauer, sondern zum Teil auch, was die Menschen angeht, mit einer großen Leere, mit einer Weite, wo das Gegenüber verloren gegangen ist."
"Also Ausreise ist hier Tagesgespräch?"
"Eigentlich ja. So nach dem Motto: dreimal ND:
Noch Da,
Na Du,
Nun Denn!"
"Was heißt ND?"
"Neues Deutschland, eigentlich. Das ist Formel, die Abkürzung für diese Zeitschrift, also diese Zeitung. Aber sie wird jetzt wohl so auch interpretiert! Nun denn, das möchte ich allerdings so auffassen, dieses dritte ND, dass es nun Zeit wird, da du noch da bist, nun sollen also auch wirklich die Hemdsärmel hochgekrempelt werden, nun soll auch wirklich versucht werden, mit denen, die da sind, gewissermaßen einzuklagen, dass dafür, dass wir hier sind, der Lohn sein müsste, die Dinge anders zu gestalten, als sie bisher gewesen sind!"

Am 13. Oktober 1989, vier Tag nach dem entscheidenden Montagabend, beschreibt Werner Brunngräber seinen persönlichen Zwiespalt mit Blick auf ausreisende DDR-Bürger – weiter im Gespräch mit dem Autor, damals:
"Für mich selber wird es immer spannender hier. Also in mir bricht ganz viel neue Hoffnung auf, zum Beispiel, dass ich diese Zivilcourage bei ganz vielen Leuten entdecke, bei denen ich nicht damit gerechnet habe! Und es gab eine Zeit, da war ich wütend auf jeden, der gegangen ist. Ich hab´ gesagt, persönlich kann ich das verstehen, aber eigentlich ist es die Flinte ins Korn werfen und die Heimat verlassen, eigentlich ist es also eine Flucht vor dem Platz, an den man eigentlich gestellt ist.
Im Moment sehe ich natürlich auch, dass durch diese große Massenflucht, dass die auch etwas ermöglicht hat, so wie die Demonstrationen in Leipzig das Gespräch ermöglicht haben, so hat die Massenflucht ermöglicht, dass politische Fragen viel stärker in das Bewusstsein des Volkes gerückt sind und ich gehe davon aus, dass diese Flucht bald versiegt, dass das bald aufhört. Damit rechne ich auch!"
"Ja, wie siehst Du so in die Zukunft? Mit Angst, mit Hoffnung?"
"Meine Angst ist, dass die Stimmen, die jetzt aus der SED, aus dem Politbüro, in den einzelnen Tageszeitungen zu hören sind, worin die Bereitschaft zum Dialog erklärt wird, worin auch gesagt wird, wir müssen in unserem Land etwas verändern, dass das keine ernstgemeinten Vorschläge sind, sondern dass man damit nur versucht, den Unmut in solche Bahnen zu lenken, dass keine Strukturveränderungen nötig sind.
Davor hab´ ich Angst, dass sich eigentlich gar nichts verändert, außer vielleicht den Reisebestimmungen. Und dass man dann auch, wenn es einige oberflächliche Veränderungen gibt, wieder schärfer gegen die neuen politischen Gruppen vorgehen kann, weil auch der Rückhalt im Volk nicht mehr so da ist."

Im Oktober 1989 fliehen 57.000 DDR-Bürger in den Westen, 36.000 dürfen legal ausreisen. Der Bezirk Erfurt entwickelt sich nach dem Montag in der Predigerkirche bis Ende Oktober mit 39 Demonstrationen zu einem der Zentren der DDR-Proteste.
Hier am Mikrofon: der Schrifsteller Christoph Hein, aufgenommen in der Ost-Berliner Erlöserkirche im Oktober 1989.
Der Schriftsteller Christoph Hein im Jahr 1989 – er übte mit seinem Theaterstück "Ritter der Tafelrunde" radikale Regimekritik. © imago/epd
Am 14. Oktober 1989, dem letzten Tag meiner DDR-Reise, erlebte ich im Theater Erfurt die Premiere des historischen Ideendramas "Ritter der Tafelrunde". Das Stück von Christoph Hein, Uraufführung im April 1989 in Dresden, wirkte auf mich wie ein Aufruf zu genau dem demokratischen Bürgeraufstand, den ich in der Predigerkirche gerade miterlebt hatte!
Die SED-Parteikader in der ersten Reihe hatten die Aufführung unter Protest verlassen, wurde mir damals erzählt. Kein Wunder, denn das Publikum konnte manchen sturen und vergreisten Ritter an der Tafelrunde leicht mit den Hardlinern im eigenen Politbüro verwechseln und sollte es auch! Der Betonkopf-Ritter Keie singt auf der Bühne das Hohelied auf das angeblich real existierende Gesellschaftsparadies und der jugendliche Rebell Mordret macht ihn dafür öffentlich lächerlich.

"Ritter der Tafelrunde" von Christoph Hein, uraufgeführt in Dresden am 14. Oktober 1989:
Keie: "Wir haben ihnen ein Paradies auf Erden geschaffen."
Mordret: "Und wolltet sie in dieses Paradies hineinprügeln!"
"Huch, Ihr wisst über alles Bescheid, und wenn es anders kommt, dann haben nicht sie sich geirrt, die Geschichte hat sich geirrt!"
Der Tyrann auf der Bühne wird ausgelacht. Die ewige vergebliche Suche nach dem Gral, Sinnbild für die glückliche kommunistische Zukunft, eine Hoffnung, an die sich nur noch der gefährliche Betonkopf Keie mit seinen brutalen Gewaltphantasien klammert. Seine Botschaft an die rebellische Jugend - Gehorsam oder Tod!
Keie: "Wir müssen sie aufhalten! Entweder der GRAL oder sie!"
Lanzelot: "Willst du alle jungen Leute umbringen?
Keie: "Entweder der Gral oder sie!!"
Ginerva: "Du bist doch wahnsinnig, Keie!"
Keie: "Töte Mordret oder er wird das Reich zerstören."
Lanzelot: "Keie, wenn Du Mordret und alle jungen Leute umbringst, dann wird der Gral endgültig verloren sein!"
Betroffenes Schweigen im jugendlichen Publikum! Die "Ritter der Tafelrunde" enden mit einem lauten Schrei nach Befreiung, einem Revolutionsaufruf des jugendlichen Rebellen Mordret gegen seinen Vater König Artus.
Mordret: "Luft! Zum Atmen! Vater!"
Artus: "Du wirst viel zerstören!"
Mordret: "Vater:! JAAAAAA!"

Eine radikalere Regimekritik auf einer DDR-Theaterbühne konnte ich mir damals als Westdeutscher kaum vorstellen. Drei Tage später wurde der oberste Betonkopf im Politbüro gestürzt: Erich Honecker.
Zwei Monate nach dem Mauerfall besuchte ich einen Auftritt des Autors Christoph Hein in der Katholischen Akademie in Hamburg. Wieder begegnet mir, nun bereits Anfang 1990, die Skepsis eines DDR-Oppositionellen der ersten Stunde mit Blick auf eine mögliche Wiedervereinigung: Dieses Mal nicht aus dem Blickwinkel vor dem Mauerfall, sondern nach dem Mauerfall.
Christoph Hein sagte damals: "Eine Wiedervereinigung wird es nicht geben, wenn, dann wird es nur eine Einverleibung geben. Westdeutschland wird sich nicht einen Millimeter bewegen müssen. Westdeutschland wird den Mund ganz groß aufmachen und dann fallen wir da rein!
Also das Wort Wiedervereinigung ist auf jeden Fall ein völlig falsches: Wiedervereinigung ist ein Agreement, wo der eine was gibt und der andere was gibt und der andere was verlangt und der andere, dieses wird alles nicht passieren. Also, wenn es zur Einheit kommt, dann durch eine Einverleibung, nicht über eine Wiedervereinigung."

Christoph Hein: "Überrascht, dass es so schnell ging"

Christoph Heins Theaterstück "Ritter der Tafelrunde" war für mich nach dem Erlebnis der mutigen Erfurter Bürger in der Predigerkirche eine Art Prophezeiung des D-Days des SED-Regimes. Aber selbst der Autor Christoph Hein hatte 1989 nicht damit gerechnet, dass es dann so schnell ging.
"Ich muss Ihnen sagen, ich bin eher überrascht, dass es so schnell dann ging. Und ich glaube keinem, der sagt, das hätte er vor einem halben Jahr schon gewusst. Ich glaube nicht, dass einer vor einem halben Jahr das schon gewusst hat."
Bei meiner Ausreise aus der "Deutschen Demokratischen Republik" am 14. Oktober 1989 hatten die Worte "Demokratische Republik" in meinen Ohren einen anderen Klang, einen anderen Inhalt bekommen. Eine mutige idealistische Minderheit hatte die Diktatur zum Einsturz gebracht.
Aber Christoph Hein blickte trotzdem im Januar 1990 skeptisch in die Zukunft: "Geschichte liebt eigentlich die Ironie, und sie hat es eigentlich immer ganz gern, wenn dann nach einer Wendung eine völlig andere Wendung kommt. Das hat die Geschichte eigentlich in all‘ den Jahrtausenden bewiesen, dass sie das eigentlich schätzt, diese Art von Ironie. Und insofern wird das einsetzen, ganz kräftig, und ich denke, wenn jemand die Zukunft gehört in allen Staaten der Welt, denke ich, gehört sie den Opportunisten. Das war immer so, wird immer so bleiben, bei allen Veränderungen, die wir machen: das werden wir auch nicht verändern können."

Sprecher: der Autor Klaus Diederichsen und Heidrun Bartholomäus
Ton: Andreas Krause
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Redaktion: Winfried Sträter