"Der 21. Dezember 1989 war ein sehr spannender Tag"

Carmen Francesca Banciu im Gespräch mit Joachim Scholl · 21.12.2009
Der Diktator Nicolae Ceausescu wurde am 21. Dezember bei einer Rede in Bukarest vor 100.000 Menschen ausgebuht. Das war der Beginn der Revolution in Rumänien, an deren Ende die Hinrichtung Ceausescus stand. Die Revolution sei durch die Ereignisse im übrigen Osteuropa stark beeinflusst worden, sagt die Schriftstellerin Carmen Francesca Banciu.
Joachim Scholl: Es war keine friedliche Revolution. Über 1000 Menschen kamen im Dezember 1989 in Rumänien ums Leben, mit Gewalt versuchte die Staatsmacht, die Demonstrationen und Proteste zu unterdrücken. Ein Stichtag war der 21. Dezember. Heute genau vor 20 Jahren wurde in Bukarest demonstriert. Auftakt war eine Rede von Nicolae Ceausescu vor 100.000 Menschen, die ihn schließlich auspfiffen. Anschließend kam es überall in der rumänischen Hauptstadt zu Versammlungen und Protesten. Zu Gast bei uns die Schriftstellerin Carmen Francesca Banciu. Sie stammt aus Rumänien, seit 1990 lebt und schreibt sie in Deutschland. Herzlich willkommen im "Radiofeuilleton", Frau Banciu!

Carmen Francesca Banciu: Hallo, guten Tag!

Scholl: Sie waren an diesem 21. Dezember in Bukarest unter den Demonstranten, Frau Banciu. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Banciu: Der 21. Dezember 1989 war ein sehr spannender Tag von Anfang an, denn wir haben den Tag begegnet, indem wir Radio gehört haben, "Radio Freies Europa", und wir hatten natürlich auch nicht nur die Kommentare über die Ansprache von Ceausescu am Vorabend gehört, sondern auch noch die weiteren Nachrichten über Temeswar.

Scholl: Da, wo die Revolte begann, in Temeswar.

Banciu: Wo die Revolten eigentlich am 16. Dezember angefangen haben. Und so war die Stadt im Aufruhr. Am Morgen bin ich dann mit meiner Tochter durch die Stadt gegangen, eigentlich hatte ich was zu tun im Verlag, und war erschrocken und ja über die Menge der Menschen, die in der Stadt waren. Es waren die Paramilitärs, es waren die Leute aus den Betrieben, sie, die Ceausescu herausgerufen hat zu einem Loyalitätsmeeting. Und sie standen da in Reih und Glied und waren wie erstarrt letztendlich da. Und ich fragte mich, was soll denn das werden, wenn Menschen in Temeswar gestorben sind, Kinder gestorben sind und wir weiter mit der Regierung jetzt mitmarschieren. Aber die Dinge haben sich sehr schnell verändert, und das war, wie wenn man einen Knopf dreht und aus nichts ist alles zusammengebrochen wie ein Kartenspiel, und die Dinge haben sich dann gegen Ceausescu gewendet.

Scholl: Der Umsturz, der ging ja rasend schnell. Am 22. Dezember flohen die Ceausescus mit dem Hubschrauber aus Bukarest, drei Tage später waren der Diktator und seine Frau Elena tot, hingerichtet. Haben Sie in diesen Tagen eigentlich damit gerechnet, dass das Regime so schnell zusammenbricht?

Banciu: Also wir haben auf eine Weise gelebt in den letzten Monaten oder ganz besonders November, Dezember, so als würde sich nichts ändern einerseits und als würde sich jede Minute etwas ändern. Die Veränderungen in Europa – Glasnost, Perestroika, die Situation in Polen, aber dann auch der Fall der Mauer –, das alles brachte eine ganz angespannte Stimmung in Rumänien. Es war auch noch der letzte Kongress, der Parteikongress, der war der Gipfel sozusagen, man erwartete, dass irgendwas passiert, dass eine Reform passiert.

Nichts passierte. Und die Stimmung war immer aufgeladener und die Menschen waren immer unzufriedener und man wusste nicht, wo man seine Anspannung hinkanalisieren soll. Man veranstaltete Partys, alles Mögliche, man tanzte – also diese ganze Energie war da, und in der Luft war klar für jeden, dass was passieren wird, die Securitate war viel aggressiver geworden. Und plötzlich, als die Mauer gefallen ist, haben wir das Gefühl gehabt, es wird auch bei uns passieren. Und dann passierte eben am 21., dass Ceausescu ausgepfiffen wurde, und dadurch war klar, dass nichts mehr aufzuhalten ist.

Scholl: Die Wende in Rumänien vor 20 Jahren. Hier im Deutschlandradio Kultur ist die Schriftstellerin Carmen Francesca Banciu zu Gast. Ihre Biografie, Frau Banciu, ist auf ganz besondere Weise mit der sozialistischen Geschichte Rumäniens verknüpft. Sie sind die Tochter von zwei hohen Parteifunktionären, Sie wurden zum kommunistischen Musterkind erzogen. Diese Kindheit haben Sie in mehreren Büchern beschrieben und reflektiert, auch in dem Roman "Vaterflucht", der jetzt gerade neu veröffentlicht wurde. Ihre Mutter war 1989 schon länger tot. Wie hat Ihr Vater, der überzeugte Kommunist, auf diesen Umsturz, die politische Wende reagiert? Das muss ja ein Schock gewesen sein, oder?

Banciu: Für meinen Vater war das ein Versagen der Regierung, ein Versagen des Kommunismus und ein Versagen unserer Generation, denn auch später und auch heute noch betrachtet er die Tatsache, dass eine Revolution in Rumänien stattgefunden hat, das Schlimmste, was dem Land passiert ist, und wir, sozusagen diejenigen, die das Land in die Katastrophe geführt haben.

Scholl: Weil Sie auch als Tochter rebellierten gegen das System. Aus der kleinen glühenden Kommunistin, die Sie als Kind waren, war nämlich eine Rebellin geworden, die das System kritisierte schon als junges Mädchen, und sofort – das beschreiben Sie in Ihrem Buch – trat die Securitate, der rumänische Geheimdienst auf den Plan. Sie erzählen, wie Sie drei Monate lang täglich acht Stunden verhört wurden und kurz vor dem Selbstmord standen. Man kann sich das aus unserer Perspektive gar nicht mal vorstellen. Ja, sogar Ihre Eltern protestierten gegen diese Behandlung, und prompt verlor Ihr Vater alle Ämter. War die Macht der Securitate größer als die der kommunistischen Partei?

Banciu: Als Ceausescu an die Macht gekommen ist, hatte er auch ein paar Dinge getan, für die man dankbar sein konnte, wie zum Beispiel, er hatte die Zensur abgeschafft, er hat die Securitate versucht, nicht zu entmachten, aber ihr weniger Macht zu geben oder die Macht einzuschränken, und man begriff ziemlich schnell, dass die Securitate und die Partei nicht gemeinsam, sondern gegeneinander sich oft ausspielten. Und das war auch der Grund, also '72 zum Beispiel, Ceausescu kam aus China ... Ich muss dazu noch sagen, dass '68 natürlich ein wichtiger Moment war, wo Rumänien nicht mitmarschiert ist mit dem Prager ...

Scholl: Prager Frühling.

Banciu: Ja, genau. Und all diese, sagen wir, "positiven" Dinge, die Ceausescu gemacht hat, die haben sich später relativiert, aber 72, als Ceausescu aus China kam und dann mit der Idee der Kulturrevolution kam und die versuchte durchzusetzen – da wurde die Zensur wieder eingeführt, da wurde die Securitate wieder, hat mehr Macht bekommen. Abgesehen davon, die Securitate bemühte sich auch, ihre Macht und ihre Notwendigkeit zu beweisen. Und es war auch im Falle der Kinder der Parteifunktionäre so, dass sie nicht nur bewacht waren, um in ihrer Entwicklung, zu sehen, wie sie sich entwickeln, und dann einzugreifen, wenn es notwendig ist, sondern man wollte beweisen, die Securitate wollte beweisen, dass sie absolut notwendig ist, weil sie die Kontrolle über diese Generation auch besitzt.

Scholl: 20 Jahre nach dieser weltpolitischen Wende wird überall in ehemals sozialistischen Ländern die Frage nach der Aufarbeitung gestellt. Wir haben derzeit in Deutschland eine Debatte auch über Rumänien, seit der Lyriker Werner Söllner eingestand, als junger Mann für die Securitate gearbeitet und dann 30 Jahre darüber geschwiegen zu haben. Heute Vormittag hat hier im Deutschlandradio Kultur der Schriftsteller Richard Wagner noch einmal auch die rumäniendeutsche Landsmannschaft kritisiert und gesagt, es gab viele, viele Mitglieder der Securitate, die da in Deutschland auch untergeschlüpft sind und bis heute unbehelligt leben. Sie leben seit 1990, Frau Banciu, in Deutschland. Würden Sie denn diese Kritik teilen, dass die Securitate eigentlich, dass dieses Problem nie aufgearbeitet wurde?

Banciu: Dass das Problem nie aufgearbeitet wurde, das ist, so kann man das nicht nennen. Sicher gibt es keine Urteile gegenüber Securitateleute. Diejenigen, die ins Gefängnis gekommen sind, sind oft entlassen worden, teilweise weil sie sehr, also man sagte, sie wären krank, sie hätten Krebs oder irgendwelche anderen Krankheiten und wurden entlassen, aber auch, weil manche nie verurteilt wurden.

Aber die Diskussion in der Gesellschaft, das kann man so nicht nennen, nicht sagen, dass da nichts stattfindet. Es gibt eine Menge Dokumentationen darüber, es gibt eine Menge Diskussionen auch in den Foren, wenn man die Foren im Internet liest. Es gibt Zeitschriften wie die Zeitschrift "?", "?" und so weiter, da gibt es eine Menge. Es gibt eine Menge Bücher. Es gibt einige Museen, die sich damit beschäftigen. Nur sicher kann man das alles nicht so schnell machen. Alles ist viel zu kompliziert. Die Dinge sind nicht so eindeutig. Und deswegen ist es kompliziert, so eine Urteilung und eine endgültige Sicht über das Ganze zu vermitteln.

Scholl: Sind Ihnen in Deutschland, seitdem Sie hier leben, ehemalige Securitate-Mitglieder in die Arme gelaufen oder sind Ihnen begegnet?

Banciu: Ich bin ... Nachdem ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich mich ganz lange, mehrere Jahre sogar, ferngehalten von meinen Landsleuten, gerade aus dem Grund, dass ich von unterschiedlichen Gruppierungen und Tendenzen aufgesucht wurde, sei es Faschisten, die noch teilweise in Europa leben, Securitate-Leute, Monarchisten und so weiter. Und ich wollte nicht so leben, dass ich jede Minute mich frage, wer ist der und warum sucht der mich auf. Und so wollte ich erst mal lange, lange Zeit mit meinen Landsleuten nichts zu tun haben.

Scholl: Vor 20 Jahren, die große entscheidende Demonstration in Bukarest. Bei uns war Carmen Francesca Banciu. Ihre Bücher, auch der gerade neu veröffentlichte Roman "Vaterflucht" sind im Rotbuch Verlag erschienen. Frau Banciu, danke Ihnen für Ihren Besuch, alles Gute und frohe Weihnachten!

Banciu: Danke, ebenfalls!