Den Schatz der frühen Kindheit bewahren

Gerald Hüther im Gespräch mit Katrin Heise · 11.03.2009
Kinder haben eine unglaubliche Entdeckerlust und Begeisterungsfähigkeit, meint der Neurobiologe Gerald Hüther. Diesen "Schatz der frühen Kindheit" gelte es zu bewahren und den Kindern zu ermöglichen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. "Kindergärten und Schulen müssten aufgemacht werden für das Leben, was da draußen stattfindet", fordert er deshalb.
Katrin Heise: Das Gehirn ist wie eine Blumenzwiebel, sein Aufbau lässt sich mit der Struktur einer Zwiebel vergleichen. Und beide brauchen Nahrung und Obhut zum Wachsen. Das lernt, wer seinen Kindern das Buch "Gehirnforschung für Kinder" des Neurobiologen Gerald Hüther vorliest. Und als Erwachsener bekommt man in der kleinen Zwiebelkunde am Schluss noch viele Hinweise, die man im Alltag mit Kindern beachten sollte, wenn man sie begleiten möchte auf ihrem Weg zu selbstbewussten und kompetenten Menschen und nicht mit falschem Ehrgeiz behindern will.

Ein Buch also für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Der Autor Gerald Hüther leitet die Abteilung "Neurobiologische Grundlagenforschung" an der Universität Göttingen. Herr Hüther, ich grüße Sie ganz herzlich!

Gerald Hüther: Guten Tag, Frau Heise!

Heise: Gehirnforschung für Kinder, das bedeutet ja ganz einfache Bilder schaffen, oder wie lässt sich das vermitteln?

Hüther: Ja, Sie müssen, wenn Sie mit Kindern reden, eine Sprache finden, die diese Kinder auch wirklich verstehen. Das heißt, Wissen, neues Wissen kann nur im Gehirn angeknüpft werden an das, was schon da ist. Man kann einem Kind nichts wirklich Neues beibringen, sondern man muss es gewissermaßen an der Hand nehmen, muss es dort abholen, wo es ist, und muss in seiner Sprache und in einer für ihn verständlichen Weise gewissermaßen etwas Neues anbieten.

Und dann erlebt das Kind dieses Zauberhafte, was wir alle so kennen aus unserer eigenen Kindheit, dass plötzlich Dinge zusammenpassen, dass es was entdeckt, dass es was gestalten kann. Und das macht ein wunderbares Gefühl. Und wenn man das in einem Kinderbuch hinbekommt, dann ist das schon großartig. Ich bin eigentlich sehr glücklich darüber, dass ich dieses Buch mit Inge Michels, das ist eine Medienpädagogin, schreiben konnte, und ich wünsche mir, dass es viele Kinder auch in die Hände bekommen.

Heise: Jetzt stellen wir es ja mehr oder weniger vor. Die Hauptpersonen, die Sie kreiert haben, sind Felix und Feline, die pflanzen eine Blumenzwiebel und müssen sich sehr um sie kümmern, damit sie am Ende auch blüht. Und dabei machen sie sich, angeregt durch ein Buch, Gedanken, wie ihr eigenes Gehirn funktioniert und warum sie bei einem Lehrer ganz toll lernen und bei einem anderen vielleicht Angst haben und überhaupt nicht mehr denken können.

Ich habe mich so ein bisschen am Anfang gefragt, warum eigentlich so was Komplexes wie Gehirnforschung für Kinder, habe dann aber beim Vorlesen bei meinen eigenen Kindern festgestellt, das interessiert die schon, wie das so funktioniert mit dem Lernen. Also da haben wir dann diese Neugierde, die Kinder eigentlich kaum überfordern kann, oder?

Hüther: Nein, und vor allen Dingen kann es die Kinder dann überhaupt nicht überfordern, wenn die das so machen, wie in dem Buch von Felix und Feline, und sich selbst auf diese Entdeckungsreise. Da ist ja gar kein Erwachsener dabei, der ihnen was erklärt. Die suchen sich alles selber zusammen. Daran merkt man eigentlich auch mal, was die für eine Fantasie haben und was die auch schon alles wissen.

Heise: Das ist, denke ich, auch der Subtext, der schon vorne für die Erwachsenen dabei ist, lass die Kinder mal ruhig experimentieren, auch wenn da mal ein Blumentopf zerbricht. Man soll nicht bei jedem Problem eingreifen.

Hüther: Ja, schauen Sie, alles das, was wir als Erwachsene gewissermaßen helfend und unterstützend für die Kinder tun, das ist etwas, was die Kinder nicht selbst machen können. Also so rum muss man ja die Dinge auch mal sehen. Wenn man einem Kind das Laufen beispielsweise mit lauter Hilfsmitteln beibrächte und ihm nicht Gelegenheit geben würde, auch ab und zu mal dabei hinzufallen und es immer wieder neu zu versuchen, dann würde kein Kind laufen lernen. Und so geht das mit allen anderen Dingen auch. Alles, was wir den Kindern vorsetzen, ist eigentlich zu viel, weil es dem Kind keine Möglichkeit mehr gibt, genau das, was wir ihm vorgesetzt haben, selber zu finden.

Und das ist eine schwierigere Pädagogik als diejenige, die dem Kinder immer klar die verschiedenen Angebote macht, die Frühförderungs- oder was weiß ich was für Angebote. Das Kind wird dann aber zu einem ganz passiven Konsumenten, das wartet sozusagen ständig aufs nächste Angebot. Das passt dann natürlich zu unserer medialen Gesellschaft, dass man dann ein Angebot nach dem anderen wahrnimmt, aber die Entdeckerfreude und die Gestaltungslust von Kindern, also diesen Schatz der frühen Kindheit, den kann man damit nicht so recht vorwärts entwickeln.

Heise: Wissensdurst nicht verhindern. Der Neurobiologe Gerald Hüther im "Radiofeuilleton". Herr Hüther, ich glaube, das knüpft jetzt so ein bisschen daran an, was Sie eben schon angesprochen haben. Sie plädieren dafür, nicht Förderprogramme, sondern Verhinderungsprogramme sollte die Gesellschaft schaffen. Was meinen Sie genau damit?

Hüther: Ja, es ist natürlich ein bisschen eine ...

Heise: Provokation.

Hüther: ... überzogene Provokation, aber es macht schon deutlich, worum es geht. Es ist einfach so, dass Kinder, wenn wir als Erwachsene uns das noch mal einen kleinen Augenblick anschauen, mit einer unglaublichen Offenheit zur Welt kommen, mit einer Entdeckerlust und Gestaltungsfreude, mit einer Begeisterungsfähigkeit, auch mit unglaublicher Fantasie. Ich glaube, niemand war in seinem Leben so gespannt auf das Leben und auch so bereit, alles, was es in diesem Leben zu entdecken gibt, aufzunehmen, wie damals, als man so zwei, drei Jahre alt war. Also das ist der Schatz der frühen Kindheit. Und es gibt keine Notwendigkeit, dass das verschwindet.

Und wenn wir dann Kinder sehen, die dann noch mit Begeisterung in die Grundschule gehen und spätestens nach drei Jahren die Lust am Lernen verloren haben, dann ist das eine Katastrophe. Und das ist das, was ich meine, was man verhindern muss. Dieser Schatz der frühen Kindheit, der muss bewahrt bleiben, den darf nicht mit irgendwelchen Maßnahmen so lange überziehen, bis die Kinder sämtliche Lust und Freude am Lernen verloren haben.

Heise: Das heißt, jemand, der seinem Kind, weil es, ja, man sagt ja auch, mit drei, vier Jahren oder fünf Jahren kann man sehr gut Sprachen lernen, der ihm dann früh Englisch zukommen lässt, macht eigentlich einen Fehler?

Hüther: Es macht keinen Sinn, Kindern etwas beibringen zu wollen, was sich in der Lebenswelt des Kindes als nicht sehr sinnvoll und nutzbringend erweisen. Wenn Eltern zweisprachig sind, ist das wunderbar. Dann lernen die Kinder zwei Sprachen, die können sogar, wenn die Großeltern noch eine dritte oder vierte Sprache sprechen, können die auch viersprachig groß werden, kein Problem. So viel Platz ist in diesem Muttersprachenzentrum.

Aber wenn sich Eltern furchtbar anstrengen, gar nicht richtig englisch können und dann ständig Englischkurse mit den Kindern besuchen, dann erlebt das Kind, dass die Mutter sich anstrengt, um ihm irgendetwas anzutun. Und das ist eine unglückliche Erfahrung für das Kind. Wenn die Eltern begeistert selbst mitlernen, meinetwegen, kann auch sein, dass das Kind dann Spaß hat daran. Aber diese Zwanghaftigkeit, mit der wir versuchen, unseren Kindern Bildung beizubringen, das ist etwas, wo ich glaube, es tut den Kindern nicht gut.

Heise: Sie plädieren auch dafür, darüber jetzt in der Natur Erfahrungen zu sammeln. Aber rumstromern in der Natur, gut und schön, so sieht aber ein Kinderalltag in der Stadt beispielsweise nicht aus. Was ist also zu tun?

Hüther: Ach, ich glaube, man kann sich da sehr vieles einfallen lassen. Auch in Städten gibt es ganz viel zu entdecken. Man müsste nur einfach mal wieder davon ausgehen und sich erinnern - und das können ja viele Erwachsene noch -, was ihnen selbst im Laufe ihrer Kindheit geholfen hat, Kraft zu schöpfen, stark zu werden. Und wenn man sich da mal fünf Minuten hinsetzt und diese Augenblicke aus seiner frühen Kindheit an seinem geistigen Auge vorüberziehen lässt, dann merkt man plötzlich, worauf es ankommt.

Diese Augenblicke, in denen man als Kind in die Kraft kommt, wo man sich stark fühlt, an die man sich dann auch sein ganzes Leben lang erinnert, das sind ja nicht die Augenblicke, wo man gerade zur Frühförderung oder zum Flötenunterricht gewesen ist. Meistens waren das Begegnungen mit anderen Menschen, meistens waren das Abenteuer, solche Dinge.

Heise: Andererseits ist natürlich der Druck auf Eltern, Erzieher, Lehrer total groß. Man kann auch verstehen, immer wieder heißt es, Bildung ist unsere wichtigste Ressource, dass man da versucht, den Kindern so früh wie möglich Bildung zukommen zu lassen.

Hüther: Ja, klar, aber es muss eben am Ende auch Bildung rauskommen und nicht Ausbildung. Das sind zwei verschiedene Dinge.

Heise: Was sehen Sie, von diesem Unterschied in dem schulischen Alltag, was finden Sie da wieder momentan?

Hüther: Der schulische Alltag ist im Augenblick noch in vielen Schulen so, dass Kindern versucht wird, alles Mögliche an Lehrstoff, an Unterricht beizubringen und dass man das am Ende abfragt. Mit dem Ergebnis, dass man auf diese Weise Kinder, Absolventen aus den Schulen herausbringt, die im Wesentlichen gar kein großes Interesse an Mathe, Englisch, Deutsch, Naturwissenschaften haben, sondern lediglich ein großes Interesse daran haben, ein Ergebnis zu erreichen, also einen Erfolg.

Die Kinder lernen heutzutage für die Ziele, also für die Zeugnisse, und nicht, weil ihnen Englisch, Deutsch oder Mathe Spaß macht. Und das ist ein bisschen eine ganz schwierige Situation geworden, und die wird nicht besser dadurch, dass wir noch stärker und noch kontrollierter auf die Schulzensuren in der Schule achten.

Es gibt hier einen Göttinger Pädagogen, Roth heißt der, der hat mal gesagt: Es kommt nicht darauf, dass wir einfach nur die Kulturgüter an unsere Kinder weitergeben, sondern dass wir in den Kindern den Geist wecken, der die Kulturgüter hervorbringt. Und um diesen Geist zu wecken, muss man Kinder begeistern. Da muss man sie inspirieren, da muss man ihnen Mut machen, da muss man sie einladen und da darf man sie nicht durch irgendwelche Lehr- und Lern- und Unterrichtsprogramme jagen.

Heise: Und da haben Sie im Moment überhaupt nicht den Eindruck, dass Bildungspolitiker oder Menschen, die sich damit befassen, da ein offenes Ohr für das haben, was beispielsweise Sie fordern?

Hüther: Doch, es gibt wunderbare Initiativen, die im Augenblick überall im Lande blühen. Sie sind noch klein und sie sind noch nicht der Mainstream. Aber ich habe zum Beispiel am Kultusministerium in Thüringen ein Projekt, das heißt "Neue Lernkultur in Kommunen". Und das Ziel dieser Übung heißt, Kindergärten und Schulen aufzumachen für das, was es in dem Dorf, in der Gemeinde, in der Kommune zu entdecken und vor allen Dingen auch zu gestalten gibt.

Kindergärten und Schulen dürfen keine Gewächshäuser sein. Dann kommen, wenn wir das so machen mit den Gewächshäusern, kommen am Ende auch nur gleichartige Tomaten und Gurken raus, so wie in unseren Geschäften herumliegen.

Kindergärten und Schulen müssten aufgemacht werden für das Leben, was da draußen stattfindet. Die müssten mal zum Bäcker, die müssten zu den letzten Handwerkern, die es in der Kommune noch gibt, die müssten mal in den Wald, die müssten mal auf die Müllhalde und auch mal ins Theater.

Heise: Gedanken und Vorschläge des Neurobiologen Gerald Hüther. Herr Hüther, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch!

Hüther: Es hat mir Spaß gemacht, vielen Dank auch an Sie.

Heise: Das Buch "Gehirnfoschung für Kinder" ist übrigens im Kösel-Verlag erschienen.