Den Religiösen eine faire Chance geben

Von Ernst Rommeney · 24.10.2011
Dunkle Ahnungen steigen auf. Schon bei den ersten Wahlen des arabischen Frühlings siegt eine religiöse Partei. Gleichzeitig kündigt die vorläufige Regierung Libyens an, islamisches Recht einführen zu wollen. Und erst vor kurzem gab es in Ägypten erneut gewalttätigen Streit um die christliche Minderheit der Kopten.
Selbst arabische Intellektuelle warnen, dass in den Ländern Nordafrikas politische und religiöse Fanatiker die Revolution um ihren Erfolg bringen, sich Gesellschaften spalten und bekämpfen, nicht der Rechtsstaat, sondern nur Diktaturen der anderen Art obsiegen könnten. Und selbst wenn der Ruf nach Freiheit erfolgreich zur Demokratie führte, so wäre sie eine arabische, keine europäische oder westliche.

Die religiösen Führer und ihre Bewegungen haben die arabische Revolte nicht angezettelt, oftmals waren auch sie von der Wucht des Protestes überrascht. Sie profitieren davon, selbst aus der Opposition zu kommen, unter Folter und Gefängnis gelitten zu haben, gleichzeitig aber mit der Religion etwas allen gemeinsames zu bieten, nämlich nationale und kulturelle Identität.

Sie versichern, dass es falsch sei, sie "islamistisch" zu nennen, also in diesem Sinne politisch und religiös intolerant. Ja, sie bekennen sich zu demokratischen Spielregeln. Doch dies versprach auch der greise Ayatollah Khomeini, als er einst aus dem Exil von Paris nach Teheran zurückkehrte. Die iranischen Geistlichen haben Versprechen nicht erfüllt und Erwartungen enttäuscht, ja der Glaubwürdigkeit des Islam als politisierter Religion einen Bärendienst erwiesen.

Trotzdem werden die Europäer den religiösen Parteien jenseits des Mittelmeers und in unmittelbarer Nachbarschaft eine faire Chance geben müssen. Bereits zwei Mal zuvor – in Palästina und Algerien – haben sie versagt und zur Eskalation beigetragen, als sie demokratische Wahlen nicht anerkannten, nur weil deren Sieger streng islamisch und ihnen deshalb suspekt waren.

Gleichzeitig ließen sich dieselben Realpolitiker gern und häufig mit arabischen Diktatoren photographieren. Diese Haltung hat nun ihrerseits den Westen Glaubwürdigkeit in der Region gekostet. Heute ginge es nicht darum, von eigenen Grundsätzen abzurücken oder verletzte Menschenrechte schön zu reden, sondern einen politischen Prozess verantwortungsvoll zu begleiten, einzuplanen, dass der Weg so lang und dornenreich sein kann wie einst die Ostpolitik.

Die Marschroute dürfte Ägypten vorgeben. Beide Flügel der Muslimbruderschaft, der sozialkonservative ebenso wie der politische, besitzen mittlerweile das Potential sich, ihr Land und die Nachbarn positiv zu überraschen – obschon sie einst als Keimzelle islamistischer Bewegungen galten. Dunkle Ahnungen jedenfalls sollten sich nicht selbst bestätigen wollen.
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