Den Opfern Gesicht und Stimme geben

Rezensiert von Cora Stephan · 23.02.2007
In langen Interviews mit den Hinterbliebenen von RAF-Opfern macht die Münchner Journalistin Anne Siemens in Gestalt von Angehörigen Individuen sichtbar. Man fragt sich nach der Lektüre dieses streckenweise zu Tränen bewegenden Buchs, warum es solange gedauert hat, bis sich jemand der Ermordeten angenommen hat.
"Durch die Rote Armee Fraktion (RAF) werden in den 28 Jahren ihres ‚bewaffneten Kampfs’ 34 Menschen getötet: Norbert Schmid, Herbert Schoner, Heinz Eckhardt, Paul A. Bloomquist, Clyde R. Bonner, Ronald A. Woodward, Charles L. Peck, Andreas Baron v. Mirbach, Dr. Heinz Hillegaart, Fritz Sippel, Sigfried Buback, Wolfgang Göbel, Georg Wurster, Jürgen Ponto, Heinz Marcisz, Reinhold Brändle, Helmut Ulmer, Roland Pieler, Arie Kranenburg, Dr. Hanns Martin Schleyer …"

... Soldaten, Diplomaten, Polizisten, Bankiers, Chauffeure, Politiker, Funktionsträger, zufällige Opfer. Alles Charaktermasken, wie ihre Mörder sagten. Notwendige Kollateralschäden. Repräsentanten des Systems und ihre Mitläufer. Schweine, keine Menschen. Mein Vater, mein Mann, mein Bruder, sagen die anderen. Und während die Täter heute aus der Haft entlassen werden, haben die Angehörigen ihrer Opfer ein unrevidierbares Urteil erhalten: lebenslang ohne Bewährung.

Anne Siemens, Journalistin aus München, hat jetzt den Opfern Gesicht und Stimme wiedergegeben, in langen Interviews mit den Hinterbliebenen. Hinter dem Abstraktum "Vertreter des Systems", hinter dem Kollektivzustand "Opfer" treten uns Individuen entgegen, Gesichter, Haltungen, Handlungen. Und plötzlich erscheinen nicht die Opfer, sondern die Täter als Charaktermasken, als erschreckend uniform – vom Schick Prada-Meinhofs, den eine junge Generation soeben wieder entdeckt, bleibt nichts, außer Wort- und Patronenhülsen.

Man fragt sich nach der Lektüre dieses streckenweise zu Tränen bewegenden Buchs, warum es solange gedauert hat, bis sich jemand der Ermordeten angenommen hat. Viel wurde über die Täter berichtet, gerätselt, spekuliert, diese Schattengestalten aus Dandytum und evangelischem Pfarrhaus, oszillierend zwischen Charme und Verbissenheit, zwischen Fanatismus und Metzgergeist.

Lag das daran, dass der Werdegang eines Verbrechers uns stets mehr zu ergründen aufgibt als die Lebensbiografie eines normalen Bürgers? Oder daran, dass sich die RAF und ihre Nachfolgeorganisationen in einem Umfeld bewegten – man nannte es damals "Sympathisantenszene" –, das an einer "gewissen Solidaritätsgleichschaltung" litt, wie Claudia Hillegaart es nennt? Ein Umfeld, das ihnen, bei aller Kritik im Einzelnen, doch in einem Punkt recht gab: mit den Mächtigen unter ihren Opfern, etwa dem Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, habe es schon irgendwie die Richtigen getroffen?

Das Buch von Anne Siemens gibt den Angehörigen den Raum, ihren ermordeten Vätern ein Gesicht, eine Biografie zurückzugeben. Zu sehen bekommt man nichts, was ihr Kollektivschicksal rechtfertigt.

Seine Tochter Viveka über den 1975 in Stockholm ermordeten Heinz Hillegaart, Botschaftsrat an der deutschen Botschaft in Stockholm:

"Typisch für unseren Vater war, sich immer wieder auf neue Abenteuer einzulassen, immer wieder neue Herausforderungen zu suchen. ... Er interessierte sich sehr für fremde Kulturen, dachte nie in Klischees. Er war ein sehr ungewöhnlicher Mensch. Er ermutigte uns von klein auf zur Auseinandersetzung mit anderen Meinungen – und dazu, eine eigene Position zu formulieren. Das eigenständige Denken zu fördern war eine seiner wichtigsten Erziehungsmaximen."

Und wofür starb Jürgen Ponto, den Susanne Albrecht, die Tochter seines Schulfreundes, ans Messer lieferte? Der Schöngeist aus dem leicht-lässigen Frankfurter Bürgertum, der Theater- und Opernfahrpläne besser kannte als Aktienkurse und Börsenberichte?

Mag sein, dass die Erinnerung manches schönt. Aber was macht das schon? Eberhard Schleyer, Sohn des 1977 erst entführten, dann mit Kopfschuss von hinten ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, beschönigt das Engagement seines Vaters bei den Nationalsozialisten nicht. Aber war das vielleicht ein legitimer "Grund" für Freiheitsberaubung und Exekution?

"Wer heute jung ist und Aufschluss über die RAF und die Entführung meines Vaters bekommen möchte, stößt unweigerlich (...) auf die Formel: Hanns Martin Schleyer war Nazi und wurde deshalb zum Opfer der RAF. Ein Umgang mit der Geschichte, (...) der mich (...) immer wieder tief verärgert, denn diese absolut verkürzte Sicht auf seinen Lebenslauf untermauert die behauptete Logik der RAF, mein Vater sei das ‚richtige Opfer’ gewesen. In den neunziger Jahren kam heraus, dass es sich bei den Dokumenten, die angeblich die Gräueltaten meines Vaters bestätigten, um Fälschungen der Stasi handelte. Doch das wurde nie so gern geschrieben wie die Geschichten vom Alt-Nazi."

Dabei wurde Hanns Martin Schleyer nicht seiner Vergangenheit wegen, sondern aus höchst eigennützigen Gründen in Geiselhaft genommen: mit ihm als Faustpfand sollte die Freilassung Andreas Baaders und Gudrun Ensslins erpresst werden. Vielleicht hatten Ulrike Meinhof, vielleicht auch Gudrun Ensslin einst wirklich hochgemute Ideale. Jahrelang aber dienten Mord, Bankraub und Geiselnahme nur einem Zweck: die "Genossen" aus dem "Knast" zu holen. Darin liegt nun gewisslich keine höhere Moral und kein verallgemeinerungswürdiges Ziel.

Das Problem war und ist die Neigung nicht weniger Zeitgenossen und Nachgeborenen, in den Aktionen der RAF so etwas wie nachholende Gerechtigkeit zu erblicken. Noch 1989 habe ich eine ansonsten liebenswürdige Frankfurter Buchhändlerin sagen hören, mit Alfred Herrhausen habe es schon den Richtigen getroffen, nur um die ihn begleitenden Chauffeure und Personenschützer, die man zunächst für tot hielt, tue es ihr leid. Seltsame Menschlichkeit, in der noch der Unterton mitschwang, auch die Begleiter seien nicht ganz unschuldig an ihrem Geschick, hätten sie sich doch sehenden Auges an die Seite eines Schuldigen begeben.

Gabriele von Lutzau, damals Gabriele Dillmann, die bei der Entführung und Befreiung der Lufthansa-Maschine "Landshut" in Mogadischu als Stewardess dabei war, bringt auf den Punkt, warum man sich für die Opfer der RAF stets weniger interessierte:

"Das Täterprofil der RAF Mitglieder ist (...) spannender. Vielen Menschen, die sich mit der Gruppe beschäftigen, kommt wahrscheinlich der Gedanke: Diese jungen Menschen sind gar nicht so weit weg von meinem Leben. (...) Sie sehen nur diese damals jungen Leute, die Lässigkeit und Intelligenz ausstrahlten, abenteuerlich lebten, sich nicht zufrieden geben wollten und behaupteten, für eine gerechtere und bessere Welt einzutreten und mit den Kontinuitäten aus der Nazizeit aufräumen zu wollen, mit den alten Herren, die unbehelligt in ihren Machtpositionen saßen."

Beeindruckend, dass und wie sich die Verwandten der Ermordeten mit all diesen Argumenten auseinandersetzen – etwa die Kinder und Brüder des 1986 erschossenen Diplomaten Gerold von Braunmühl, die damals in einem bemerkenswerten Dokument mit den Mördern argumentierten:

"Hört auf. Kommt zurück. Habt den Mut, Euer geistiges Mordwerkzeug zu überprüfen. Es hält der Prüfung nicht stand. Treffend sind nicht Eure Argumente, treffend sind nur Eure Kugeln. Ihr habt das Abscheulichste und Sinnloseste getan."

Doch mit der RAF war nicht zu reden. Die Übriggebliebenen beenden ihre kriminelle Laufbahn erst am 20. April 1998 und erklären sich zu "ehemaligen Militanten der RAF". Bereut haben sie nichts, was manche noch heute für "Stolz", "Haltung" und "Konsequenz", also für Charakterstärke halten.
Menschen mit wirklicher Haltung im Sinne von menschlicher Größe und Stil aber zeigen Anne Siemens’ Interviews. Keiner will Rache – denn, so Clais v. Mirbach:

"Ich bekomme meinen Vater nicht dadurch zurück, dass es den Tätern schlecht geht."

Der Rechtsstaat garantiert auch die Rechte seiner Gegner. Aber Gnade, etwa für Christian Klar? Corinna Ponto:

"Wer einmal Opfer wurde, kann nie Ex-Opfer sein. (...) Ex-Terroristen nennen sie sich aber alle, die in der RAF waren und heute wieder in unserer Gesellschaft leben. (...) Hat irgendein Ex-Terrorist wahrnehmbar eine Antiterrorismusbewegung in Gang gebracht? ... Gnade an sich ist ein elementares Thema und eine gute Sache, aber nicht vor dem Hintergrund von Verlogenheit. Mich persönlich hat jedenfalls nie eine aufrichtige, spannende, profilierte Distanzierung erreicht."

Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für mich der Vater - Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus
Piper Verlag, München 2007
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