Demontage eines Deutschen

Rezensiert von Peter Merseburger · 11.11.2007
Als Vater der Deutschen Nation und grandioser Feldherr galt Paul von Hindenburg. Selbst sein Zutun bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten konnte dieses Bild lange Zeit nicht entzaubern. In der Biografie "Hindenburg" gelingt es dem Historiker Wolfram Pyta, mit dem gewachsenen Mythos aufzuräumen und ein realistisches Bild des Feldherren und Politikers zu zeichnen.
Es ist eine sehr späte, aber dann geradezu atemberaubende Karriere - allerdings eine, die am Ende Deutschland in die Katastrophe führen wird: die eines fast schon Vergessenen, der 67-jährig als pensionierter Generalmajor seine täglichen Spaziergänge im Hannoverschen Stadtwald unternimmt und, in einer kritischen Phase des frühen Krieges aktiviert, schon nach wenigen Wochen zur Vaterfigur einer ganzen Nation, ja, zur Inkarnation ihrer Einheit aufsteigt. Die Rede ist von Paul von Hindenburg, über den es schon etliche, leider meist verklärende Biografien gab. Doch keiner ihrer Autoren verstand es je, so klar und so schlüssig herauszuarbeiten, warum dieser Militär, der ja trotz seiner Bella Figura von 1,83 Meter als Militär durch und durch Mittelmaß war, es bis zum Reichspräsidenten brachte wie Wolfram Pyta, der Nachfolger Eberhard Jäckels auf dem Lehrstuhl für neuere Geschichte in Stuttgart.

Energisch bestreitet Pyta die These vieler Hindenburg-Forscher vom angeblich zutiefst unpolitischen Charakter des Feldmarschalls. Und überzeugend legt er dar, dass dieser Präsident die Republik von Weimar, die er innerlich stets ablehnte, nicht etwa als hilfloser Greis unter den Einflüsterungen benachbarter preußischer Junker, sondern im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, aus freiem Willen den Nationalsozialisten ausliefert, weil er in ihnen die wahren Erben seiner nationalen Vorstellungen und Überzeugungen sieht.

Für Pyta ist Hindenburg etwas, was es eigentlich gar nicht geben darf und seinen Aufstieg zum Symbol einer einigen Nation doch glänzend erklärt: Ein passiver Charismatiker, wenn man so will. Keiner also, der mit dem lodernden Feuer seiner Person oder mit der Kraft seiner Reden die Menschen in seinen Bann schlägt, sie verzückt sein lässt, zu bedingungslos Gläubigen macht oder sie in einen kollektiven Rauschzustand versetzt. Für all das war der steife, nüchterne Hindenburg wahrlich nicht gemacht. Und doch vermag er schließlich charismatische Herrschaft auszuüben, weil er geradezu idealtypisch als Projektionsfläche für die Sehnsüchte des Volkes taugt: für Sieges- und später für Durchhaltewillen, für militärische Stärke, nationale Einheit und klassenübergreifende Volksgemeinschaft. Der Krieg, meint Pyta, ist nun einmal eine bevorzugte Geburtsstunde charismatischer Herrscher:

"Es konnte auch ein bis dato der breiten Öffentlichkeit unbekannter Soldat sein, der mit dem Aufkommen des Schlachtenlärms im August 1914 zur symbolischen Projektionsfläche nationaler Vergemeinschaftung aufstieg. Er musste sich dazu nur auf dem Schlachtfeld an hervorragender Stelle bewährt haben und darüber hinaus eben symbolisch adaptierbar sein, so dass er über den Nur-Soldaten hinauswachsen konnte. Das alles traf auf den bis zur Schlacht von Tannenberg nur militärischen Zirkeln bekannten Hindenburg zu."

Entscheidend für den Mythos Hindenburg wird, dass dem bis dahin fast unbekannten Militär im Osten mit weit unterlegenen Kräften gelingt, was im Westen trotz Schlieffenplan und überlegenen Kräften an der Marne den Generälen des Kaisers gründlich missrät: Die Vernichtung des Feindes in einer Umfassungsschlacht nach dem Muster von Cannae. Dass das Verdienst an diesem Sieg nahezu ausschließlich Hindenburgs Generalstabschef Ludendorff zukommt, ist zwar dem Kaiser, der Obersten Heeresleitung samt dem Korps der höheren Offiziere im Heer bestens bekannt, nicht aber dem Volk. Dessen kollektiv aufgewühlte Seele wartet förmlich auf einen siegreichen Feldherrn, dem es den Lorbeer des militärischen Genius ums Haupt winden kann. Geradezu Kometenhaft steigt Hindenburg nach der Schlacht von Tannenberg zum populärsten deutschen General auf, weil, so Pyta, die deutsche Gesellschaft eines Helden bedürftig ist, den es im Westen, wo die Front zum blutigen Stellungs- und Abnutzungskrieg erstarrt, nicht geben kann.

"Lawinenartig wuchs die Zahl der Gegenstände, die mit dem - nicht zuletzt verkaufsfördernden - Namen des Kriegshelden versehen wurden. Zigarren, Schuhe, Heringe, Kuchen wurden durch die Vorsilbe 'Hindenburg' veredelt; praktisch keine Haushaltsware, die nicht als Hindenburg-Markenware angepriesen wurde. Infolge der legendenhaften Ausschmückung erwarb der bis August 1914 praktisch unbekannte Hindenburg mythische Qualität: Er avancierte zu einem 'Helden im Sinne der Dichtung'. Ungeachtet der konfessionellen, sozialen und regionalen Unterschiede, die bezeichnend waren für die zerklüftete deutsche Gesellschaft, stieg der mythenumkränzte General zum Gesamtbesitz aller Deutschen auf."

Wenn Hindenburg als Fels in der Brandung zum Symbol nationaler Einheit und Gemeinschaft wird, hat dies allerdings auch damit zu tun, dass er selbst sich früh als geschickter Manager des eigenen Ruhms erweist. So benennt er die Schlacht, die eigentlich bei Ortelsburg und Allenstein stattfand, in Schlacht von Tannenberg um, damit sie im historischen Bewusstsein der Deutschen zur Revanche für die Niederlage der deutschen Ordensritter um 1400 gespeichert wird. Zugute kommt ihm dabei, dass er einen Gegner schlägt, der schlimmste zaristische Tyrannei repräsentiert und als kulturelle Bedrohung für die Zivilisation gilt, dass er Europa - in der simplen Klischee-Vorstellung seiner deutschen Landsleute - vor der russischen Dampfwalze und der asiatischen Flut bewahrt. An diesem Bild des Retters arbeitet er sehr gezielt selbst, stets darauf bedacht, den eigenen Mythos zu erhöhen und intakt zu erhalten. So wählt er, der in medialen Fragen so erstaunlich instinktsichere, selbst die Maler aus, die ihn in seinem Hauptquartier abbilden dürfen. Sorgfältig achtet er darauf, dass der strategische Kopf all seiner Erfolge, Ludendorff, stets über Karten gebeugt als dienender dargestellt wird, indes er selbst in majestätischer Ruhe sinniert und sein Feldherrnblick bereits den nächsten Feldzug ins Auge fasst.

Dabei ist unstreitig, dass der große Feldherr die Arbeit im Krieg weitgehend seinem Ludendorff überlässt. Er selbst unternimmt Spaziergänge, schläft ausgiebig zu Mittag, jagt Elche und Wisente und gibt abends gerne Tischgesellschaften. Gebraucht wird er nach Tannenberg denn auch weniger als Militär denn als Symbol. Mit seinem Quadratschädel und dem buschigen Schnurbart strahlt er Seriosität und Verlässlichkeit aus, dem Volk flößt er nach dem Scheitern des Westfeldzugs neue Zuversicht ein. Während der Kaiser durch das Kriegsgeschehen in den Hintergrund gedrängt wird, zieht Hindenburg die Integrationshoffnungen der Deutschen auf sich, bis das Volk in ihm einen zweiten Bismarck sieht.

Pyta entwirft das Charakterbild eines Mannes, der, obschon überzeugter Monarchist, sich über die Gehorsamspflicht gegenüber dem Monarchen hinwegsetzt, wenn Höheres, nämlich das Wohl des Volkes auf dem Spiel steht. Nicht dem Kaiser, sondern der Nation hält er die Treue, allerdings als ein Erzkonservativer, der antipluralistisch und antiparlamentarisch denkt. Weil die innere Einheit für ihn Voraussetzung der Aktionsfähigkeit der Nation nach Außen ist, bleibt der Geist von 1914 sein Ideal, der ein gesellschaftlich zerklüftetes Volk in der aufwallenden Kriegsbegeisterung zusammen schmiedete. So strebt er als Präsident stets nach der Zusammenfassung der Kräfte rechts von der Sozialdemokratie, der sich aber, sehr zu seinem Zorn, die Deutschnationalen unter Hugenberg als fanatische Gegner der Republik immer wieder entziehen.

Als es schließlich, nicht zuletzt durch Franz von Papens Bemühungen gelingt, ein Bündnis zwischen NSDAP und den Deutschnationalen unter dem Kanzler Hitler zu zimmern, sieht er seinen Traum erfüllt, zumal der neue Kanzler es versteht, den letzten Rest von Misstrauen, den Hindenburg gegen den böhmischen Gefreiten hegt, geschickt auszuräumen. Selbst die Mordaktion gegen die SA-Führer heißt der Präsident gut, denn er denkt in soldatischen Kategorien: Eine Rebellion muss niedergeschlagen werden, auch wenn Blut dabei fließt. Und da man ihm erklärt, sein früherer Ratgeber und Kanzler General Schleicher habe landesverräterische Beziehungen zu Frankreich unterhalten, beanstandet er selbst dessen Ermordung nicht.

In seinem Testament nennt er zwar keinen Nachfolger, aber er bringt sein Wohlgefallen über die seit dem 30. Januar 1933 eingeleitete Entwicklung zum Ausdruck. Pyta lässt keinen Zweifel daran, dass der alte Herr genau wusste, was er schrieb, als er Hitler in diesem Testament "seinen" Kanzler nannte, der es verstanden habe, das deutsche Volk über alle Standes- und Klassenunterschiede zusammenzuführen. Mit geradezu philosophischer Akribie habe Hindenburg Korrekturen an seinen Briefen, Erklärungen und ihm vorgelegten Schriftstücken vorgenommen, wohl wissend, dass jedes Wort von ihm öffentliches Gewicht besaß.

Pyta ist mit seinem "Hindenburg" ein wahrhaft monumentales Werk gelungen, das mit vielen gängigen Vorurteilen aufräumt. Kaum eine Biografie, eher eine Monografie über einen erfolgreichen General, der zum nationalen Symbol wird, die Rezeptionsgeschichte der eigenen Heldengestalt nach Kräften mitzulenken und sie politisch für sein Ideal der nationalen Konzentration einzusetzen versteht. Fast tausend Seiten ist diese Geschichte der Entstehung, Verfestigung, aber auch Entzauberung eines nationalen Mythos stark. Eine Verknappung, Straffung und der Verzicht auf manche Wiederholung hätten freilich gut getan. Sie würden dem Buch mehr Leser zuführen - und die hat Pyta wahrlich verdient.

Pyta, Wolfram: Hindenburg.
Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler

Siedler Verlag, München 2007
Wolfram Pyta: Hindenburg
Wolfram Pyta: Hindenburg© Siedler