Demokratiebildung in Mecklenburg-Vorpommern

Mitmachen statt Mitmeckern

Der Demokratiebus vor dem Landtag in Schwerin
Der Demokratiebus vor dem Landtag in Schwerin © Landeszentrale für Politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern
Von Alexa Hennings · 20.12.2016
100.000 Kilometer ist der Demokratiebus schon gefahren, und fünf Jahre lang gibt es den Demokratieladen in Anklam. So versucht die Landeszentrale für Politische Bildung in Schwerin, draußen auf dem Land mit Bürgern und Schülern ins Gespräch zu kommen. Aber: Desinteresse oder Schimpfen, dagegen muss man erst einmal ankommen.
An rund 100 Tagen im Jahr rollt ein weißer Bus durchs Land. Er fällt auf mit seiner roten Banderole und der Schrift darauf. Mal keine Werbesprüche. "Demokratie" ist zu lesen, und: "DDR-Geschichte, Opferrente, Menschenrechte, Rehabilitierung, Freiheit, Stasi-Akteneinsicht, Europa". Und: "Wir sind das Volk" - jener Slogan, den Pegida und AFD unlängst kaperten. Über den Fenstern steht: "Demokratie auf Achse".
Der Bus fällt auf. Das ist nicht immer vorteilhaft für Tom Meyer, den Fahrer.
"Die schlimmste Sache war ein Anschlag von mutmaßlichen Rechten auf meinen Bus. Beschmiert und Buttersäure. Ich kann auch damit rechnen auf der Autobahn, dass mich Leute manchmal schneiden oder hupen oder abdrängen oder so was. Dass Leute, die das lesen, uns für alles verantwortlich machen."
Der Bus ist von Schwerin aus auf dem Weg nach Vorpommern. Erster Halt: Crivitz, eine mecklenburgische Kleinstadt östlich von Schwerin. Hier gibt es das noch, was weiter östlich, im vorpommerschen Wolgast, abgewickelt wurde und was die Bürger dort so erzürnte: ein Jobcenter zum Beispiel oder die Geburtshilfestation im Krankenhaus.
Freilich sind auch hier die Wege zu Behörden oder zum Gericht viel weiter geworden, seit der Großkreis Ludwigslust-Parchim entstand, einer der größten Landkreise Deutschlands.
Auch weil man von hier aus gerade noch in den Westen pendeln kann, gehören die Arbeitslosenzahlen zu den niedrigsten in Mecklenburg-Vorpommern. Hier trug hier noch die SPD den Sieg davon, aber 21 Prozent der Wähler machten auch in diesem Landkreis ihr Kreuz bei AFD oder NPD.

Politik als Rollenspiel

Im Gymnasium "Am Sonnenberg" suchen sich 25 Elftklässler einen Platz in der Aula, einem halbrunden Glasbau mit Blick auf den See und die Stadt mit ihrem mittelalterlichen Kirchturm. Nina Ramid, eine junge Frau in Jeans und Kapuzenjacke, verschafft sich Gehör.
"Guten Morgen! Ich stelle uns erstmal kurz vor: Das ist mein Kollege Carsten und ich bin Nina. Wir kommen beide von der Landeszentrale für Politische Bildung. Habt ihr davon schon mal was gehört? Nee? Die sitzt in Schwerin, eigentlich gar nicht so weit weg."
Carsten: "Ich weiß nicht, wie oft ihr in einer größeren Gruppe über Politik diskutiert in den Pausen, in der Freizeit - kommt das oft vor? Bitte? (Lachen) Also, es bleibt relativ stumm. Und das ist auch unsere Erfahrung, und deshalb versuchen wir uns heute diesem Thema spielerisch zu nähern. Was wir heute machen wollen ist, euch in die Rolle von Politikern zu ersetzen. Wir werden hier im Klassenverband einen kleinen Wahlkampf simulieren. Ihr werdet Parteien gründen, ihr werdet die Politiker sein und ihr werdet gegeneinander mit euren Themen antreten."
Aufatmen in der Schülerschaft. Also kein langweiliger Vortrag, wie sie beim Thema Politische Bildung im Stillen befürchtet hatten. Ein Begriff, dem sie sich erst nähern müssen an diesem Tag.
Schüler: "Dass man einen eigenen Eindruck von Politik bekommt, dass man sich selbst reindenken kann, dass man mitdenkt und vielleicht auch die Politik besser nachvollziehen kann - das würde ich unter politischer Bildung verstehen."
Schülerin: "Dass man seine eigenen Argumente reinbringt und die von anderen sich anhört und seine Meinung dazu sagt. Das kommt ja in der Schule manchmal ziemlich kurz, finde ich."
Schülerin: "Mich interessiert das auch nicht so wirklich. Weil es sehr viele Probleme sind und die Politiker haben selbst keine Lösung. Na ja, wir könnten schon selbst ein bisschen was verändern, bestimmt. Aber die Zeit dafür fehlt eigentlich. Zeit und Interesse fehlen."

Interesse wecken für Politik

Deshalb ist der Demokratiebus auf Achse: Um Interesse zu wecken für Politik. Und es funktioniert - zumindest bei den Schülern: Drei Stunden haben sie in drei Wahlkampfteams beraten, gestritten, Argumente ausgetauscht, ein Wahlprogramm erarbeitet und nebenbei eine Partei gegründet.
Schüler: "Also, unser Name ist SIBP - die Sozial-Integrative Bildungspartei. unser Slogan ist Grün-Sozial-genial. Wir befassen uns mit den Themen Bildung und Lehrermangel, die Legalisierung von Cannabis, der Flüchtlingspolitik, den Arbeitslosen und den Kindergartenplätzen. Wir fangen mit dem Lehrermangel an"
Im Westen gibt es zu viel, im Osten zu wenig Lehrer, bemängeln die Schüler. Sie schlagen vor, die Gehälter in den alten und neuen Bundesländern anzugleichen.
"…Und die Lehrer, die dann im Endeffekt zu viel sind, die können wir dann für integrative Zwecke nutzen, z.B. im Flüchtlingsheim Deutsch zu unterrichten."
Ein Vorschlag löst heftige Diskussionen aus: Langzeitarbeitslose sollen gemeinnützige Arbeit leisten, 10 Stunden in der Woche.
Schüler: "Diese gemeinnützige Arbeit könnte man leisten, indem man im Flüchtlingsheim Kinder betreut, Essen ausgibt oder auch sonst alles Mögliche. Das kann man sich aussuchen. Und wenn man nach fünf Jahren immer noch nichts getan hat, keinen Job hat oder keine gemeinnützige Arbeit, dann kriegt man nur noch Essenmarken vom Staat."
Auch um Ideen, wie der Staat zu mehr Geld kommt, sind die Schüler nicht verlegen.
"Laut Rechnungen soll die Versteuerung von Cannabis fünf Milliarden Euro im Jahr einbringen, was dann auch für Projekte wie Kita-Bau gebraucht werden. Deswegen unser Slogan: Gras für Kitas!" (Beifall)
Nach der "Elefantenrunde" dient der Bus als Wahlkabine. Eine lange Schlange bildet sich davor. Im hinteren Teil des Busses ist ein Büchertisch mit Publikationen der Landeszentrale für politische Bildung eingerichtet, dort dürfen sich die Schüler bedienen. Am meisten interessieren sie die großen Landkarten von Deutschland und Europa und die Kartenspiele zur Geschichte und über Städte in Mecklenburg-Vorpommern.

Keine Gespräche über Politik zuhause

Doch auch der dicke Wälzer über Rechtsextremismus und das Heftchen "20 Fragen und 20 Antworten zur Flüchtlingspolitik" wird von einigen Schülern mitgenommen. Themen für Gespräche mit den Eltern am Abendbrottisch?
"Also, wählen gehen sie, aber wir reden nicht viel über Politik."
" Manchmal ist es ja auch so, dass man Mitläufer ist und sagt, man geht wählen, damit man wenigstens doch etwas getan hat. Aber das Interesse fehlt einfach auch."
"Vielleicht auch manchmal die Zeit? Man hat viel zu tun, Arbeit, Kinder, da bleibt nicht viel Zeit übrig, sich nochmal extra hinzusetzen und sich zu informieren. das passiert dann beiläufig."
" Na ja, aber wenn einer mal anfängt und den Glauben daran hat, und dann immer mehr das machen, dann kann man auch mehr bewegen, als wenn man sagt: Das machen die anderen schon."
Nach der Wahl der spannende Moment: Die öffentliche Auszählung der Stimmen.
Carsten: "… Und damit haben wir einen Tagessieger. Ich bitte den Spitzenkandidaten der SIDP nach vorne, 12 Stimmen, kleiner Applaus! Wenn man genau durchrechnet, dann merkt man, ihr habt zwar 12 Stimmen, aber das reicht nicht, um einen absolute Mehrheit der Stimmen zu gewinnen. Ihr braucht einen Koalitionspartner. Deshalb bitten wir euch noch - ihr könnt auch gern eine kleine Dankesrede an das Volk halten - lachen - aber wir wollen von euch auch schon eine kleine Koalitionsaussage hören, mit welcher Partei ihr zuerst in Verhandlung treten wollt und warum…"
Als auch das geklärt ist, gehen die Wahlsieger unter Applaus von der Bühne.

Auf dem Marktplatz gibt es nur wenig Gespräche

Der Bus rollt weiter in Richtung Vorpommern. In den nächsten Tagen steht er dort an drei Orten auf dem Marktplatz. Heute ist das Ziel: Ueckermünde am Haff.
Ein Marktplatz in einer Kleinstadt am frühen Nachmittag - da ist der Springbrunnen das Lebendigste. Die paar Leute, die mit ihren Einkaufstüten unterwegs sind, scheinen extra einen Bogen um den Bus zu machen. Die Mitarbeiter dort räumen einen Aufsteller mit Broschüren und einen Stehtisch nach draußen. Und warten. An den Schulen, so ihre Erfahrung, ist es einfacher über Politik ins Gespräch zu kommen als auf dem Marktplatz.
Nina Ramid: "Das ist schon oft weit verbreitet, dass die Leute eher in der Mentalität verharren, dass sie ja eh nichts ausrichten können. Und Politiker nur das machen, was sie wollen. Und gar nicht das Bewusstsein haben, dass sie damit dann anderen das Feld überlassen. Wir erleben es schon ab und zu, dass Leute, wenn sie den Bus sehen und die Schlagworte lesen, die am Bus stehen Demokratie - dann hören wir halt abwertende Sprüche und 'Ach, Demokratie existiert sowieso nicht'. So in diesem Tenor. Na ja, mit den Leuten können wir gar nicht mehr kommunizieren, die sind schon weg eigentlich."
Eine Frau kommt, Mitte 60. Sie hat in der Zeitung gelesen, dass heute der Demokratie-Bus kommt und man dort einen Antrag auf Akteneinsicht bei der Stasi-Unterlagenbehörde ausfüllen kann. Ein wichtiger Service in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern, wo manche Betroffene es 250 Kilometer weit bis Schwerin haben.
Nina Ramid zieht sich mit ihr zum vertraulichen Gespräch in den Bus zurück. Ein Mann in dicker Weste und Gummistiefeln, eine Angel über dem Rücken, schiebt sein Fahrrad in Richtung Bus - und stutzt.
"Können wir Ihnen helfen?"
"N
ö. Ick wundere mich, dat hier so was uffkreuzt! Dat wundert mich, weil viele gar nicht wissen, dass es so was gibt."
Aus der Zeitung hat er es jedenfalls nicht erfahren.
"Ich lese keine Zeitung. Kann ich mir nicht leisten als Armutsrentner."
"Ist eine Service-Leistung der Landeszentrale f
ür Politische Bildung, um ein bisschen Informationen reinzutragen."
"Kennen ja die wenigsten. Ich war vor - oh, das sind jetzt 20 Jahre her, da war ich ja noch aktiver B
ürger. Da war ich mit der Landeszentrale für Politische Bildung in den USA. 14 Tage."
"Oha!"
Damals war Roland Rücker hauptamtlicher Gewerkschafter beim DGB. Meliorationstechniker hatte er gelernt, war zu DDR-Zeiten Vorarbeiter in einem Brunnenbau-Betrieb.. 1999 wurde er krank, Hartz IV, jetzt, mit 57, ist er sogenannter EU-Rentner - Erwerbsunfähigkeitsrenter.
"Sie haben 35 Jahre gearbeitet, haben eingezahlt und müssen um jeden Scheiß kämpfen. Um simpelste Sachen. Ick wohn da 25 Jahre zur Miete, ich kriege nicht mal paar neue Steckdosen, die sind noch aus den 60er-Jahren drin. Und jetzt kommen die Flüchtlinge, da ist Laminat, Klo drin, ein neuer Ofen. Die Menschen haben das Gefühl - ich rede jetzt mal von mir: Ick bin noch schlimmer dran wie ein Asylbewerber.
Und das sind so Sachen, die die Leute in so einer armen Region denn natürlich auch - die Masse sind ja keine Rassisten oder Nazis. Ist ja Blödsinn Das geht bloß darum, die wollen ihren Frust loslassen und der ist auch berechtigt. Det isset."

Das Gefühl, benachteiligt zu sein

Eine Frau von sehr gepflegtem Äußeren tritt heran, aus dem Aufsteller hat sie sich das Heftchen "20 Fragen und Antworten zur Flüchtlingspolitik" gefischt. Doris Richter, 60 Jahre alt, betreibt eine kleine Wellnessagentur, sie bietet Massagen und Kosmetikbehandlungen an. Obgleich sie bis abends um zehn geöffnet hat, reichen ihre Einkünfte nicht zum Leben. In Ueckermünde kamen noch mehr Frauen auf dieselbe Geschäftsidee, sie muss aufstocken beim Jobcenter, dort kämpfen um jeden Euro, und fühlt sich ebenso in der Mühle wie der Mann mit der Angelrute. Und ebenso benachteiligt den Neuankömmlingen gegenüber.
"Das ist doch das, was uns ärgert, wenn andere herkommen: Die eigenen Kinder oder die eigenen Leute zuhause werden vergessen. Die Schicksale werden herunter geredet, herunter gedimmt. Das sind ältere Menschen, denen es so geht wie mir, oder kranke Menschen, denen es so geht wie mir. Bloß, man redet nicht gerne drüber.
Ich habe mich eine Zeitlang geschämt dafür, mittlerweile rede ich sogar mit meinen Kunden drüber, dass ich Aufstocker bin. Du fühlst dich als Versager, aber das bist du nicht, weil die ganzen Rahmenbedingungen das gar nicht zulassen.
Ich bin 60. Wenn ich bis 63 noch durchhalte, bin ich gut. Und darum kämpfe ich, dass ich mit 63 ohne Abzüge in Rente gehen kann. Man kann nicht mehr als leisten. Sowie man schon wieder so eine Aufforderung im Briefkasten hat "
Rücker: "Da geht einem die Mütze hoch!"
Richter: "Ja. ich hab nur noch Angst, dass ich wenn ich Rente kriege, ich noch immer abzahlen muss, dass ich mal gearbeitet habe. Und das ist unser Staat? Das ist Demokratie?"
Der Mann mit der Angel legt der Kosmetikerin beruhigend die Hand auf die Schulter. Und gibt doch noch etwas zu bedenken.
"Ich kann ja nun nicht meinen Frust, weil ich mit dem Leben nicht klarkomme - ick sag mal, die paar Flüchtlinge, die wir hier haben, ist nicht das Problem. Ob wir hier 100, 200 oder 300 haben. Wir haben hier so viele große Gebäude - steht leer. Und wenn man einen Schluss zieht zu der Zeit 33/45. Damals haben auch gewisse Länder darum gekämpft, um die deutschen Juden aufzunehmen. Es gab ja keine Einigung damals, gab ja extra eine Konferenz. Und heute ist es doch schon wieder so beschämend."

Nachfrage zum Antrag auf Einsicht in Stasiunterlagen

Die Frau, die ihre Stasiunterlagen beantragen wollte, kommt aus dem Bus. Iris Wieland, Altenpflegerin aus Torgelow, Rentnerin.
"Ich habe einen Antrag gestellt, weil mich interessiert, ob man früher, zu DDR-Zeiten, mal krass zu sagen, bespitzelt worden ist. Da möchte ich eine Aufklärung haben - jetzt oder nie!"
Ein typischer Fall für Nina Ramid. Rund zehn Anträge nimmt sie an einem solchen Tag auf dem Markplatz im Demokratiebus entgegen. Dabei hört sie viele Lebensgeschichten - im Jahr 26 nach dem Ende von DDR und Stasi.
"Viele sind da vorsichtig. Wenn sie eben noch im gleichen familiären Umfeld leben, den gleichen Freundeskreis haben, in der gleichen Stadt leben. Dann überlegt man natürlich, ob man den Antrag stellt, weil man ja vielleicht Sachen erfahren könnte, die einem nicht so lieb sind.
Je älter man ist, desto entspannter können sie damit umgehen. Es ist einfach eine Sache, die Zeit braucht, und es ist nicht verwunderlich, dass heutzutage immer noch die Anträge gestellt werden. Im Gegenteil."
Ein Werbe-Artikel der AfD mit der Aufschrift "25 Prozent" wird am 04.09.2016 in Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) nach der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse zu den Landtagswahlen bei der Wahlparty in die Höhe. 
Wahlparty AfD nach Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern© picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Wenig Anlass zum Wundern hatte die Mitarbeiterin des Demokratiebusses auch, was die jüngsten Wahlergebnisse in der Region betrifft: In manchen vorpommerschen Orten holten AFD und NPD zusammen 30-40 Prozent der Stimmen bei der letzten Landtagswahl.
"Nee, das war keine Überraschung, Weil man eben viel mitkriegt, wie die Leute Politik wahrnehmen, aktuelle Tagespolitik. Wir kriegen ja die Meinungen hier geballt am Bus zu hören, auch in den Schulen. Insofern war es keine große Überraschung."
Da hilft nur eines, meint Nina Ramid: Zuhören, auch wenn man für die Beschwerden übers Jobcenter und andere Behörden gar nicht zuständig ist. Und: Fakten liefern.
"Na, ich versuche dann schon ein bisschen Klarheit zu schaffen, indem ich ein paar Fakten liefere, denn vieles basiert ja auf Halbwissen, oder man hat mal gehört, das sei so und so - und da ist es natürlich meine Aufgabe, aufzuklären und zu sagen, was tatsächlich ist."
Mitmachen statt Mitmeckern. Carsten Socke versucht, zu motivieren.
"Ich finde, dieser Spruch 'Demokratie lebt vom Mitmachen' ist keine hohle Phrase. Das ist so. Man muss die ganze Sache mit Leben füllen. Und jeder, der sich rauszieht, zieht sich so ein bisschen vielleicht aus der Demokratie zurück. Und da versuchen wir die Leute zu animieren, darüber nachzudenken: Was bedeutet das eigentlich für mich in meinem Alltag, in einer Demokratie zu leben? Gehe ich vielleicht nicht doch mal zu einer Gemeindevertretersitzung, was sprechen die Leute da, wer vertritt meine Meinung? Das ist absolut wichtig, da geht es los. Das ist der Grundstein, die kleinste Zelle in der Demokratie. Viele Leute denken: Da wird eh nix entschieden, das machen alle die da oben in Berlin. Und da ist es ganz schwer für uns, zu arbeiten, da muss man dann ganz klein-klein diskutieren."

Der Demokratieladen in Anklam

30 Kilometer weiter, in der Altstadt von Anklam, unweit der Nikolaikirche. Ein Geschäft in der Burgstraße. Zwei große Schaufenster, darin Plakate mit dem heutigen Angebot: Wissen, Meinungsfreiheit, Teilhabe, Mitbestimmung. Kein Wurst- und Käseladen, auch kein Geiz-Shop oder Klamotten-Schnäppchen, sondern: ein "Demokratieladen". So steht es über dem Eingang.
Hier arbeiten Annett Freier und Lars Tschirschwitz. Ebenso wie der Bus ist der Laden ein Projekt der Landeszentrale für Politische Bildung.
"Man hat eben lange, lange zugeguckt in Anklam und die Nazis haben ihre sogenannten verbotsfesten Strukturen aufgebaut und ihre Leute rekrutiert und organisiert. So, und was jetzt? Das ist auch wirklich das dickste Brett, das wir hier bohren müssen in Anklam."
Der DemokratieLaden in Anklam.
Der DemokratieLaden in Anklam. © DemokratieLaden
Anklam und Umgebung galt und gilt als rechteste Ecke des Landes, die NPD und ihre Sympathisanten haben nicht nur Plätze in den Stadtvertretungen, sondern auch in Vereinen, Elternräten und Jugendeinrichtungen besetzt. Sie sind längst angekommen in der Mitte der Gesellschaft.
Anett Freier: "Und da gab es natürlich die, die ihr Image nicht befleckt wissen wollten und gesagt haben: Das sind Randerscheinungen, das sind Kleinigkeiten. Die 'Das-wächst-sich-aus-Haltung' gab es vermehrt. Das war die Idee zu sagen, wir brauchen hier erstmal jemanden, der die Sensibilisierung der Kräfte fördert und Strukturen aufbaut von den Leuten, die sagen: Jawohl, hier gibt es ein Problem und wir wollen das auch aufgreifen. Und wir wollen auch mehr an den Ursachen arbeiten als an den Symptomen.
Ich brauche mich nicht mit Nazis auseinandersetzen vordergründig, sondern ich muss dafür sorgen, dass der Nachwuchs da nicht hin gerät. Dass die Leute das nicht einfach dulden, dass es so Alltag, Normalität wird. Sondern sagen: Wir müssen uns dazu bekennen, dass es da ist und dass wir daran was ändern wollen."
Es galt, nicht nur die klassischen Instrumente der politischen Bildung auszupacken - Vorträge, Lesungen, Filme, Diskussionen. All das findet auch statt, nicht nur im Laden, sondern auch in Schulen und Jugendtreffs oder im Klub der Volkssolidarität. Dort brachte Annett Freier unlängst Senioren, die ihr ihre Ängste vor der Islamisierung gestanden, zusammen mit syrischen Flüchtlingen.

Vernetzung vieler kleiner Initiativen

Doch das Hauptding war, die vielen kleinen Initiativen und Einzelpersonen, die sich überall verstreut im Landkreis gegen Rechts und engagierten, zu vernetzen. Als sich Hunderte zum NPD-Pressefest in der Nähe von Anklam treffen wollten, stand eine vier Kilometer lange Menschenkette an der Straße.
Anett Freier: "Das war so ein irres Gefühl, weil das ist ja Kern unserer Arbeit: Den Leuten zu zeigen: Ihr seid nicht allein! Weil, viele haben die Flinte ins Korn geworfen, ihnen fehlten Gleichgesinnte. Und die Leute, die bereit dazu gewesen wären, haben sich nicht getraut oftmals oder haben sich schwach gefühlt."
So entstand unter Federführung des Demokratieladens das Bündnis "Demokratisches Ostvorpommern". Das kann zu jeder Gelegenheit reaktiviert werden, zum Beispiel, als Pegida die sogenannten "Stadtspaziergänge" organisierte. Oder als es in Torgelow unruhig wurde, weil in einem Plattenbau eine Unterkunft für Flüchtlinge eingerichtet werden sollte. Die Mitarbeiter des Demokratieladens haben zwischen Bürgern und Verwaltung vermittelt und angeregt, den Verein "Torgelow hilft" zu gründen - analog dazu gibt es in mehreren Städten der Region Vereine, die ihren Stadtnamen vor das Wort "hilft" gesetzt haben.
Der Torgelower Harald Rinkens betreut Flüchtlinge, bringt ihnen Deutsch bei und sorgt für Integration durch Fußballspielen in der gemeinsamen Mannschaft "FC Drögerheide". Dafür gab es den Integrationspreis des Deutschen Fußballbundes 2016.
Harald Rinkens: "Annett und ich, wir telefonieren auch regelmäßig und tauschen uns aus. Also, wenn man Hilfe braucht, sind die immer da. Und sind ganz wichtig für die Region, sie sind auch ein Hassobjekt für die Nazis, weil sie eben solche Dinge machen und organisieren. Ohne die wäre vieles gar nicht angeschoben worden.
Ich bin ja der Vorsitzende des Vereins 'Willkommenskultur Torgelow'. Das ist ein tolles Zusammenarbeiten. Und wir haben seit drei Jahren keine Straftat aus dem Heim heraus und auch von außen keine einzige Straftat."
Das bedeutet schon viel in dieser Region. Ebenso wie die Tatsache, dass eine Erweiterung der rechten Szene nicht stattfand. Viele kleine Schritte mögen dazu beigetragen haben: So hatte zum Beispiel der Demokratieladen Dorfzeitungen initiiert, um den Infoblättchen, die die NPD regelmäßig an alle Haushalte verteilte, argumentativ etwas entgegenzusetzen.

Abstempeln grenzt Menschen aus

Zu tun bleibt dennoch genug für die demokratische Kultur in Vorpommern: Rund 30 Prozent der Bevölkerung machten ihr Kreuz bei der AFD - hauptsächlich, so meint Annett Freier, aus dem Gefühl heraus, abgehängt zu sein.
"Hier wird so nach und nach alles geschlossen und ich muss zugucken und am Ende hier das Licht ausmachen. Das ist natürlich kein gutes Gefühl, um - was wir immer so wollen mit bestimmten Projekten - wehrhafte Demokratie zu erzeugen. Die Antwort hatten wir zur Wahl.
Aber es ist wenig hilfreich, auszugrenzen und zu sagen, wir beschäftigen uns nicht damit, wir stempeln das einfach als rechts ab, als undemokratisch ab. Das ist vor allem undemokratisch, wenn es so viel Zuspruch gekriegt hat. Damit grenze ich ja ganze Bevölkerungsteile aus."
18 Uhr. Auf dem Markplatz in Ueckermünde startet Tom Beyer den Demokratiebus. Nächster Halt ist die Insel Usedom.
"Heute war es ja noch richtig ruhig hier. Ich nenne sie immer NN - notorische Nörgler. Früher war alles besser, was ist das für 'ne Demokratie? Wenn sie rumnörgeln und uns beschimpfen, sage ich: Wenn das jetzt hier keine Demokratie wäre, hätten sie dich schon weggefangen! Dann könntest du jetzt gar nichts sagen! So einen Bus zu bauen, ich fand das eine gute Idee. Man kommt durch das Land, und den Leuten einfach mal zu sagen, sie mal wieder auf den Pott zu setzen: Was ist eigentlich wichtig? Mir brennt keiner morgens mein Haus ab. Oder wie hat Churchill gesagt: Wenn es morgens um sechs klingelt und ich kann sicher sein, das kann nur der Milchmann sein und niemand anderes, dann denke ich, dass ich in einer Demokratie lebe!"
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