"Demokratie lebt von Falschmeinungen"

Henryk M. Broder im Gespräch mit Jürgen König · 30.08.2010
Der Konsens gegen Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin erinnert Henryk M. Broder an die "dunkle Epoche" der "Hexenverbrennung". Auch wenn er das Buch noch nicht gelesen hat, sieht er in "Deutschland schafft sich ab" einen wichtigen Beitrag zum "demokratischen Diskurs".
O-Ton Thilo Sarrazin: 78 Prozent der türkischen Mitbürger fühlen sich nicht von Angela Merkel als Bundeskanzlerin vertreten. Ein Großteil der muslimischen Migranten, die bei uns leben, mag einen deutschen Pass haben, er fühlt sich aber nicht als Deutscher. Wir müssen die Menschen, die bei uns leben, denen müssen wir alle Chancen geben, sich zu integrieren, wir müssen diese Chancen aber auch mit einem kräftigen Aufforderungscharakter verbinden.

Jürgen König: Das sagte Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur über sein neues Buch "Deutschland schafft sich ab", das heute erscheint.

O-Ton Sarrazin: Für die Gesamtheit der also muslimischen Einwanderung in Deutschland gilt die statistische Wahrheit: In der Summe haben sie uns sozial und auch finanziell wesentlich mehr gekostet, als sie uns wirtschaftlich gebracht haben. Das ist ein nüchterner Saldo, was den einzelnen Menschen nicht auf seinen wirtschaftlichen Wert reduziert.

König: Mit solch statistischen Überlegungen und Gedanken über vererbbare Intelligenz, aus denen der Schluss gezogen werden kann, dass nach Meinung von Thilo Sarrazin die Mehrheit der muslimischen Einwanderer Deutschlands leider keine Intelligenz zu vererben hätten, damit hat Thilo Sarrazin helle Empörung hervorgerufen. Am Telefon jetzt der Publizist Henryk M. Broder, Herr Broder, ich grüße Sie!

Henryk M. Broder: Guten Morgen, Herr König!

König: Als damals das "Lettre"-Interview von Thilo Sarrazin erschien, da haben Sie gesagt, Sie könnten die ganze Aufregung nicht verstehen. Können Sie die Aufregung verstehen, die Thilo Sarrazin jetzt mit seinen Thesen ausgelöst hat?

Broder: Ja, ich kann sie einigermaßen verstehen. Ich stehe gerade hier in Berlin im Haus der Bundespressekonferenz und hinter mir drängeln sich Hunderte von Journalisten, Dutzende von Kamerateams, man könnte meinen, die Mauer sei wieder gefallen oder werde wieder aufgebaut! Einen solchen Presseauflauf hat es hier seit 89 wirklich nicht mehr gegeben. Und das zeigt, dass Sarrazin in der Tat einen Nerv getroffen hat. Wenn er nur ein Trottel wäre, ein Schwadroneur oder jemand, der nicht rechnen, nicht schreiben kann, würde die Bundesrepublik wahrscheinlich über sein Buch mit Schweigen hinweggehen. Aber nein, er trifft einen Nerv.

Und ich sag noch ein zweites Beispiel, was für einen Nerv er trifft, nämlich den Nerv der Voreingenommenheit. Gerade hat mich ein ARD-Team um ein Interview gebeten und die erste Frage war, die ich natürlich nicht beantwortet habe: Was sagen Sie zu Sarrazins Machwerk? Also das Wort "Buch" kommt da auch schon nicht mehr infrage, es ist eine Art von Konsens entstanden, es ist ein Machwerk. Aber das ist es nicht. Und was ich jetzt ziemlich übel finde, ist, dass sich jetzt alle auf die Gen-Geschichte stürzen, die natürlich strittig ist und die natürlich angreifbar ist, an der was dran ist, an der nichts dran ist je nachdem, welche wissenschaftlichen Studien man als Beleg heranzieht; aber dass hinter dieser Gen-Geschichte alles, was er sonst sagt, verschwindet, weil das der weichste Punkt des ganzen Buches ist.

König: Ich meine, die Reaktionen auf Sarrazin, die heftigen, haben doch eigentlich, oder folgen dem, einem ähnlichen Muster: Im Prinzip hat er recht, die Gen-Geschichten …

Broder: … aber! …

König: …genau, aber dann überspannt er den Bogen. Tut er das, und wenn ja: wo, wo genau?

Broder: Ich weiß nicht, ob er den Bogen überspannt. Ich bin ja der Einzige, der sich zu dem Buch noch nicht geäußert hat, weil ich es noch nicht gelesen habe, ich habe jetzt gerade ein Exemplar in die Hand bekommen. Was glaube ich bei Sarrazin entscheidend ist: Er spricht einen unglaublichen Klartext und er spricht Sachen aus, die andere ahnen. Und die Reaktion gegen Sarrazin steht auf zwei Füßen: Erstens will man ihn zum Schweigen bringen, zweitens wollen die Leute, die ihn auf diese Weise jetzt angreifen, den Zweifel in sich selbst zum Schweigen bringen, ob er nicht vielleicht doch recht haben könnte.

Und im Übrigen ist eins vollkommen in der ganzen Debatte ausgeblendet und vergessen: Eine Demokratie lebt von Falschmeinungen. Über richtige Meinungen kann mehr sehr schnell einen Konsens erzielen, aber zu einer demokratischen Debatte, zu einem demokratischen Diskurs gehört natürlich auch die Verbreitung von falschen Meinungen. Und hier geht es nicht darum, falsche Meinungen zu verbreiten oder ihnen zu widersprechen oder sie zu korrigieren, hier geht es darum, so etwas per "Ordre de Mufti" zu verbieten. Und ich fühle …

König: … aber wer sollte eine solche "Ordre de Mufti" erlassen? Das ist doch noch gar nicht passiert.

Broder: Nun schauen Sie mal, wenn Sie meinen Kollegen Arno Widmann lesen, ich glaube in der "Berliner Zeitung" und der "Frankfurter Rundschau", der ruft nach dem Staatsanwalt und nach dem Psychiater und möchte Sarrazin aus der Öffentlichkeit verbannt wissen. Und das ist der Tenor ganz vieler Beiträge: Weg mit dem Mann! Und ich komme mir vor, als wäre die DDR wieder aufgestanden oder vielleicht irgendeine dunkle Epoche der europäische Geschichte, zum Beispiel die Hexenverbrennung. Es ist einfach unheimlich, schlicht unheimlich, völlig …

König: Weg mit dem Mann, meinen Sie damit auch die Rücktrittsforderung?

Broder: … natürlich, natürlich, weg mit dem Mann. Und zwar nicht unbedingt physisch weg mit dem Mann, außer irgendein Verrückter beschließt, den stillen Ruf der Mehrheit in die Tat umzusetzen. Nein, weg mit dem Mann, er hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Einen solchen Konsens – ich lebe seit 40 Jahren in der Bundesrepublik – hat es in Deutschland über eine Meinung oder über einen Mann nicht gegeben.

Und es gibt noch einen zweiten Trick, der jetzt angewandt wird, ihm wird jetzt Antisemitismus vorgeworfen. Wenn man ihm etwas vorwerfen könnte, dann eher Philosemitismus, weil er die Juden zu Unrecht für intelligenter hält als andere. Aber hinter dem Antisemitismusvorwurf kann man natürlich besonders gut auf den Mann eindreschen, weil Antisemitismus ist natürlich und zu Recht in der Bundesrepublik nicht mehr salonfähig. Es ist überhaupt gar keine inhaltliche Debatte da, es geht darum, dass sozusagen ein Volk aufsteht, es ist einer Meinung und lässt sich über einen Sündenbock aus, den man in die Wüste schicken möchte. Das ist schon sehr unheimlich.

König: Aber liegt das nicht auch daran, dass Thilo Sarrazin mit seinen Thesen, die wir ja alle letztendlich nur in den Ausschnitten gelesen haben, wie sie bisher veröffentlicht wurden, auch sehr pauschal ist? Ich meine, es besteht ja wirklich Konsens darin, dass die Linke zum Beispiel jahrelang weggeguckt hat, als es Probleme mit der Integration gab, da war immer …

Broder: … nicht nur die Linke, nicht nur die Linke …

König: … das Multikulturale davor, genau, die Konservativen haben auch weggeguckt,

Broder: … ja, die ganze Gesellschaft …

König: … genau, die Einwanderer würden über kurz oder lang wieder gehen …

Broder: … genau, genau …

König: …, aber dass dieses Pauschale, dass es sozusagen sich gar nicht mehr lohne, die muslimischen Einwanderer mit Bildung zu versehen, sich um ihre Integration zu kümmern, weil sie – und da kommen wir leider natürlich auf das Genetische, das Sarrazin ja auch anspricht –, dass es sich gar nicht mehr lohne, lädt das nicht geradezu zu dann auch pauschalen Vorverurteilungen ein?

Broder: Nein, also so pauschal sagt er es nicht, sagt er es nicht. Aber Sie müssen, schauen Sie, erst mal: Sie kommen in allen Debatten an gewissen Pauschalierungen, oder sagt man Pauschalisierungen? – Als Deutscher mit Migrationshintergrund kämpfe ich immer noch mit einigen Begriffen, also Sie kommen um pauschale Aussagen natürlich nicht herum. Wir sagen ja auch die Deutschen, wir sagen nicht SPD-Deutsche, CDU-Deutsche, katholische Deutsche, Grünen-Deutsche. Wir sagen die Deutschen und natürlich pauschalieren wir, das ist völlig unvermeidlich. Und er sagt ja auch, soweit ich die paar Auszüge gelesen und verstanden habe, er sagt nicht, dass das für alle Moslems gilt, er sagt, das gilt für die muslimische Einwanderung. Und da ist in der Tat was dran. Schauen Sie, wenn wir heute von Migranten reden, wenn wir heute von Migrationsproblemen reden, ist es Ihnen aufgefallen, dass wir nie über die Asiaten reden, die zu uns gekommen sind? Wir haben auch noch keine Asiaten-Demo erlebt mit Menschen, die sich beleidigt und gekränkt fühlen oder gegen Karikaturen vorgehen müssten. Wir wissen kaum, dass es in Düsseldorf eine große japanische Gemeinde gibt, in Süddeutschland große Gemeinden von Teilen …

König: … weil die alle gemeinhin als integriert gelten.

Broder: Weil sie allgemein als integriert gelten, das sind auch alles Leute, die sind daheim nicht in eine deutsche Volkshochschule gegangen, die sind nicht auf dem roten Teppich hergekommen, sondern meistens in erbärmlichen Verhältnissen. Oder wenn ich mir das Milieu angucke, aus dem ich gekommen bin, polnischer jüdischer Kleinbürger – nein, Kleinstbürger – mit einem wahnsinnigen Abstand zu Bildung. Ich komme mitten aus den bildungsfernen Schichten und die meisten Leute, die ich kenne, auch.

Wenn wir über Migration und Probleme der Migration reden, reden wir nur über Moslems. Und wenn ich Moslem wäre, wäre ich darüber extrem betrübt. Aber ich würde vielleicht gucken, was ist in meinem Milieu schiefgelaufen, und nicht, warum wird mein Milieu so schief angesehen. Mit Sicherheit ist Sarrazin gegenüber vielen Moslems ungerecht. Allein in meinem Bekanntenkreis kenne ich Moslems, die ich wirklich jedem deutschen Akademiker vorziehen würde, was Fleiß, Intelligenz, Begabung und Integrationsfähigkeit angeht. Aber es gilt eben nicht für die Masse. Und er redet über die Masse und er versucht das Phänomen als Ganzes darzustellen. Und dass er dabei gegen Einzelne ungerecht ist, das kommt mit.

König: Das kommt mit, aber es kommt auch mit, dass er zum Beispiel sehr viele Zahlen vorlegt, von denen Wissenschaftler nicht so richtig nachvollziehen können, wo er sie her hat. Und wenn man dann in der "Süddeutschen" liest, dass Sarrazin das auch gar nicht korrigiert, sondern sagt, na ja, wenn man keine Zahl hat, muss man eine schöpfen, so wie er das wörtlich gesagt hat. Das ist doch wieder ein Grund, wo nicht verwunderlich ist, dass dann viele sagen, na ja, mit so jemandem kann man nicht ernsthaft diskutieren, der hat nicht mal richtige Zahlen vorzulegen, die auch nur irgend…

Broder: … ja, das kann sein, das weiß ich nicht, dazu kann ich nichts sagen, weil ich mir das nicht angesehen habe. Man kann in der Tat in der Statistik, in der Sozialforschung Zahlen schöpfen, man kann sie auch ableiten. Schauen Sie, die ganze Armutsdebatte in der Bundesrepublik beruht auf geschöpften Zahlen, um mit Sarrazin zu reden, nämlich auf der Annahme, dass jemand, der weniger als 60 Prozent des Durchschnitteinkommens hat, arm ist. Also in der Statistik können Sie alles machen. Ich glaube, es war Churchill, der gesagt hat, er traue keiner Statistik, außer, er habe sie selber gefälscht. Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass er soziale Missstände beschreibt, die wir alle vor unseren Augen sehen, und die sind da, und Leute, die sich jetzt über ihn aufregen, wollen weiterhin die Augen schließen oder ihre softe Integrationspolitik weiter treiben. Und …

König: … Frank Schirrmacher – ich muss doch, ich will zum Schuss doch noch mal auf diese genetische Geschichte kommen –, Frank Schirrmacher schrieb gestern in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", Zitat: "Mit jeder Seite, die man liest, wird klarer, dass es sich hier nicht um ein bildungsbürgerliches Traktat handelt, sondern um die Etablierung eines völlig anderen Kulturbegriffs. Es geht um die Verbindung von Erbbiologie und Kultur und damit letztlich um ein Wort, das Sarrazin Darwin zitierend so unerschrocken benutzt wie einst Gottfried Benn, nämlich Zuchtwahl und Auslese." Was sagen Sie zu diesem Vorwurf der Erbbiologie?

Broder: Ich weiß es nicht, ich muss mir das erst mal wirklich angucken. Und wenn Schirrmacher das meint, dann gibt es guten Anlass, es für richtig zu halten. Ich würde an Sarrazins Buch etwas anders kritisieren, und zwar den Titel, der mir wirklich eine falsche Programmatik andeutet: "Deutschland schafft sich ab". Wissen Sie, das sagt erst mal gar nichts, das kann gut sein oder das kann schlecht sein. Dass sich das Dritte Reich abgeschafft hat, ist eigentlich eine positive Entwicklung gewesen. Und ob die Abschaffung des jetzigen Deutschland positiv oder negativ ist, wissen wir noch nicht, das wird sich herausstellen.

Im Übrigen gibt es kein Land, das sich im Laufe der letzten zehn, 20 Jahre nicht abgeschafft hätte. Frankreich ist heute ganz anders, Italien ist ganz anders, Israel ist ganz anders, ich glaube, nur noch Belgien ist so, wie es immer war. Und insofern ist der Titel "Deutschland schafft sich ab" ein bisschen larmoyant. Wenn sich Deutschland nicht abschafft, welches Deutschland soll dann da bleiben? Das wilhelminische Deutschland, das bildungsbürgerliche Deutschland? Das finde ich, wenn Sie so wollen, kulturdefätistisch und dieser Titel stört mich gewaltig. Wissen Sie, wenn sich Deutschland abschafft, kann daraus noch was Gutes oder sogar was Besseres werden, und dass sich vieles in der Tat in der Bundesrepublik abgeschafft hat, dass zum Beispiel ein solches Buch erscheinen kann, das ist ein Vorteil. Dass hinterher eine Hexenjagd einsetzt, ist einer der Nachteile in diesem Land, das offenbar mit sich selber um seine Abschaffung ringt.

König: Die Thesen des Thilo Sarrazin gesehen vom Publizisten Henryk M. Broder. Herr Broder, ich danke Ihnen.
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