Demenz als Zeitbombe

12.11.2009
Wir schreiben das Jahr 2050. Weltweit leben 70 Millionen hochaltrige Menschen, die sich regelmäßig einer Art Gesundheits-TÜV unterziehen müssen. Drohen sie dement zu werden, wird ihnen vom Gesundheitsamt der sogenannte "Sterbe-Kit" zugesandt. Das ist ein Paket zur Anleitung zum Selbstmord, der staatlich verordneten Sterbehilfe.
Was sich liest wie ein Filmausschnitt aus dem Sciencefictionklassiker "Silent Green" könnte Zukunft werden für uns alle. Rüdiger Dammann und Reimer Gronemeyer malen dieses düstere Horrorszenario in ihrem aufrüttelnden und überaus lesenswerten Buch "Ist Altern eine Krankheit? Wie wir die gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen".

Auf knapp 290 Seiten stellen Rüdiger Dammann und Reimer Gronemeyer die Krankheit Demenz in all ihren Facetten dar. Kein Bereich bleibt außen vor. So werden die Ursprünge der medizinischen Forschung, neueste Behandlungsforen und Therapien genauso ausführlich beschrieben wie Krankengeschichten erzählt und – genau das ist die große Stärke dieses Buches – aktuelle Betreuungseinrichtungen vorgestellt. Akribisch werden die jeweiligen Vor- und Nachteile der heutigen Heimunterbringung benannt und neueste Tendenzen in der Pflege, etwa die elektronische Überwachung der dementen Patienten, beleuchtet.

Das alles ist hochinteressant und liest sich spannend wie ein Krimi. Denn eins ist klar, Demenz ist eine Zeitbombe und man kann mit ihr viel Geld verdienen. Auch wenn bisher keine Heilung gefunden wurde, und das, obwohl weltweit Milliardensummen in die medizinische Bekämpfung der Demenz gesteckt werden. Doch Demenz muss nicht so bedrohlich sein, wenn die Gesellschaft anders mit ihr umgeht. Die Soziologen fordern eine Resozialisierung der Dementen. Sie sollen nicht länger weggeschlossen und als lästiger Ballast wahrgenommen werden, sondern so lang wie möglich mitten unter uns leben - als vollwertiger Teil dieser Gesellschaft.

Das große Ziel, so Rüdiger Dammann und Reimer Gronemeyer, muss die demenzfreundliche Kommune sein, in der alle Mitglieder das Krankheitsbild kennen und ihm nicht länger mit Angst und Vorbehalten begegnen. Die Betroffenen werden in ihren Fähigkeiten unterstützt, es wird ihnen geholfen, so lang wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu führen und die Nachbarschaftshilfe wird wieder zum tragenden Element. Das liest sich zwar anfangs ein bisschen wie Sozialromantik zweier ewig Gestriger, doch wenn man sich die Alternative ausmalt, dann erscheinen die Forderungen von Rüdiger Dammann und Reimer Gronemeyer sehr logisch.

Es gilt sich ein Beispiel zu nehmen an dem Orden der Katholischen Schwestern von Notre Dame, die für ihren außergewöhnlich hohen Altersdurchschnitt bekannt sind. Untersuchungen von Alterforschen belegten, dass die untersuchten Frauen bis ins hohe Alter geistig fit und aktiv waren. Kognitive Einbußen zeigten sie bei keinem der durchgeführten Tests, vielmehr schnitten sie überdurchschnittlich ab. Zeichen einer Demenz fand sich bei ihnen erst nach ihrem Tod, dann nämlich als die Forscher ihre Gehirne untersuchten und darin die für Alzheimer typischen krankhaften Veränderungen fanden.

Was zeigt, handeln wir nicht und überlassen die Betreuung der wunderlich gewordenen Menschen nur noch den Spezialisten, dann bewegen wir uns im Schnelltempo auf eine wenig lebenswerte Welt zu. Eine Welt, in der Kranke schon bei ersten Anzeichen aussortiert werden. Zumal die Sozialkassen in Zukunft gar nicht das Geld haben werden, allen Dementen eine gute Pflege zu finanzieren. Sterbehilfe bekommt vor diesem Hintergrund plötzlich eine ganz andere Bedeutung und die Vision vom staatlich verordneten Selbstmord scheint gar nicht mehr so undenkbar.

Besprochen von Kim Kindermann

Rüdiger Dammann, Reimer Gronemeyer: Ist Altern eine Krankheit? Wie wir die gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen
Campus, Frankfurt/New York 2009
228 Seiten, 17,90 Euro