Dem Westen auf die Knochen geschaut

19.07.2011
Nach einer Demonstration wurde die oppositionelle Malerin Bärbel Bohley 1988 in der DDR verhaftet und gegen ihren Willen in die Bundesrepublik abgeschoben. Sie saugte das Lebensgefühl des Westens auf und schilderte es mit sezierendem Blick in ihrem posthum erschienenen "Englischen Tagebuch 1988". Ein Jahr nach ihrer Rückkehr in die DDR gründete Bärbel Bohley das Neue Forum. Sie starb am 11. September 2010.
Das Wunder fand am 6. August 1988 statt: An diesem Tag saß Bärbel Bohley in einem aus London kommenden Flugzeug nach Prag und wurde dort im Auftrag der DDR-Regierung von Manfred Stolpe und Gregor Gysi in Empfang genommen. Zum ersten und einzigen Mal durfte so eine ausgebürgerte DDR-Oppositionelle wieder in ihre Heimat zurückkehren. Nach sechs Monaten im Westen und einer Reise, die das Leben von Bärbel Bohley verändert hat.

Was aber war passiert? Nach einer Demonstration wird Bärbel Bohley am 25. Januar 1988 verhaftet und in den Westen abgeschoben. Gegen ihren Willen und doch stellt sie Bedingungen: Sie fordert, ihre DDR-Staatsbürgerschaft behalten zu dürfen und nach sechs Monaten wieder einreisen zu können. Im Westen versteht keiner diesen Wunsch. Und so läuft die zierliche Malerin von Pontius zu Pilatus und drängt auf die Einhaltung ihrer Forderungen. Immer wieder jedoch stellt sie fest: Niemand versteht, warum sie zurückwill; keiner ist an den Problemen in der DDR ernsthaft interessiert.

Bohley aber kämpft weiter und sie reist umher. Sie besucht den Kölner Dom und den Isenheimer Altar, sieht die Loreley, zündet vor Jeanne d'Arc in der Pariser Notre Dame eine Kerze an, läuft durch die Straßen von Venedig. Sie saugt das Lebensgefühl des Westens auf und schildert es in ihrem erst jetzt erschienenen "Englischen Tagebuch 1988" in einem eindringlichen, fast schon literarischen Ton.

Abseits von Hochgefühlen nimmt sie aber immer wieder auch die Widersprüche des Westens wahr: die Überfülle in den Supermärkten, die Armut an den Rändern, das Desinteresse an politischen Diskussionen, und nicht zuletzt die Heimatlosigkeit derer, die die DDR einst verlassen haben.

Aus diesen Erkenntnissen – der Einsicht in die Verstrickung der Kirche mit dem DDR-Machtapparat; dem Desinteresse des Westens an den Zuständen in der DDR und letztlich auch den Widersprüchen des Kapitalismus selbst – aus all dem wird sie später die Kraft nehmen, für eine Veränderbarkeit des Sozialismus zu kämpfen. Der Rest ist Geschichte. Ein Jahr nach ihrer Rückkehr gründet Bärbel Bohley das Neue Forum.

Dieser große historische Schritt aber ist ohne diese Reise nicht denkbar. Das wird spätestens durch die Lektüre des Tagebuches klar. In ihren beinahe täglichen Einträgen schaut sie dem Westen auf die Knochen. Dabei zeigt sich Bohley als eine genaue und akribische Chronistin ihrer Zeit. Mit sensiblem weiblichen Blick und einem wachen politischen Verstand seziert sie die Wirklichkeit. Ihr Ton ist dabei überraschend literarisch.

In den letzten Jahren ihres Lebens ist Bärbel Bohley aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Erst ihr Tod am 11. September 2010 brachte sie wieder in Erinnerung; dabei zählt sie zu den beeindruckendsten Frauen der jüngeren deutschen Zeitgeschichte - wie sehr, beweist ihr Tagebuch. Die knapp 120 Seiten sind das beeindruckende Protokoll einer Bewusstseinskrise, einer Reifezeit und eines geradezu historischen Erkenntnisprozesses. Und damit ist dieses Tagebuch aus jenem Stoff, aus dem große Literatur gemacht sein sollte.

Besprochen von Jana Hensel


Bärbel Bohley, Englisches Tagebuch 1988,
Aus dem Nachlass herausgegeben von Irena Kukutz,
BasisDruck Berlin, 168 Seiten, 14 Euro