Dem Leben zugewandte Historiographie

Rezensiert von Eberhard Straub · 16.09.2012
Man stelle sich nur einen Augenblick lang vor, es hätte die Kreuzzüge nicht gegeben. Der Islam hätte sich frei und friedlich ausbreiten können. Einen kleinen Eindruck davon bekommt man bei der Lektüre der Bücher von John Freely. Seit mehr als einem halben Jahrhundert lebt er in Istanbul.
"Bagdad liegt im Herzen des Islam / und es ist die Stadt des Heils. / Dort lebt die Begabung, von der man spricht, / die Eleganz und die Vornehmheit. / Die Winde dort wehen sanft / und die Wissenschaft ist scharfsinnig."

Diese Verse gehören zum Loblied Thabi ibn Qurras, eines Mathematikers und Astronomen, der 862 nach Bagdad kam. Von dort aus hatte eine islamische Renaissance um 800 unter Harun ar-Raschid ihren Ausgang genommen, als die bislang fahl scheinende Sonne begann,

"…die Fluten ihres Lichtes zu verströmen"."

Der orientalische Dichter Mossuli gebraucht damit das gleiche Bild wie Schikaneders und Mozarts orientalischer Sarastro neunhundert Jahre später in der "Zauberflöte":

""Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht."

Das Dunkel, das Dämmern wird aufgeklärt. Diese Gemeinsamkeit ist nicht weiter verwunderlich. Denn die islamischen Renaissancen, die über das arabische Spanien und Sizilien im 11. Jahrhundert das nordwestliche Europa erreichten, leiteten die Folge der vielen Renaissancen ein, mit denen sich die Alte Welt immer wieder verjüngte. Daran erinnert John Freely mit seinem Buch: "Platon in Bagdad".

"Angesichts des apokalyptischen Geredes vom ‚Kampf der Kulturen’ sollte der vielfältige kulturelle Austausch, in dem die moderne Wissenschaft entstand, von besonderem Interesse sein. Der ursprüngliche Konflikt, der mit dem Aufstieg des Islam einherging, brachte die griechisch-islamische Wissenschaft in den Westen, und das war der Anfang der modernen wissenschaftlichen Tradition."

Es war nicht die Religion, die den kulturellen Zusammenhang gefährdete. Zum ersten Mal konnten sich Orient und Okzident nicht mehr verständigen, weil die Lateiner aufhörten, griechisch zu lernen, und die Griechen darauf verzichteten, Latein zu gebrauchen. Griechisch war im Orient eine Weltsprache geblieben, die Kultursprache schlechthin.

Die Araber wollten sich und ihren Islam in diesen alten Kulturraum eingemeinden, der weiterhin geschmacklich von Byzanz geprägt wurde. Sie mussten sich hellenisieren in ihren Lebens- und Denkformen. Auch weil der größte Teil der Gläubigen aus konvertierten Christen bestand, die des Propheten Mohammed frohe Botschaft durchaus mit ihren philosophisch-theologischen Traditionen zu verbinden wussten. Außerdem blieben viele hellenisierte Syrer, Perser oder Ägypter bekennende, aber keineswegs orthodoxe Christen, vor allem die gebildeten unter ihnen: Ärzte, Juristen, Astronomen, Philosophen oder einfach nur Journalisten, auf deren Hilfe jedes System angewiesen ist.

Kurzum, es entwickelte sich schnell ein islamischer Hellenismus in Lebensstil, Dichtung und Wissenschaft.

Die griechischen Philosophen und Naturwissenschaftler wurden ins Arabische übersetzt und damit Bestandteil einer islamischen Kultur, die nun insgesamt mit schönen Sitten, kühnen Gedanken und sprachlicher Anmut die ziemlich unbeholfenen Europäer bezauberte. Diese brachen auf, um sich in Córdoba, in Toledo, in Palermo oder gleich im Orient zu kultivieren, was hieß sich mit Hilfe weltläufiger Muslime zu hellenisieren. Diese brachten den Christen bei, was sie selbst einst von den Griechen gelernt hatten: sich in weltlichen Dingen auf die Vernunft zu verlassen, die Gott dem Menschen verliehen hatte, um selbstständig die natürliche Welt erfassen zu können. Wissenschaft und Glaube standen sich dabei nicht im Wege.

Über die Orientalen gelangte der westliche Barbar allmählich zur Leichtigkeit des Seins im Denken und Schreiben. Die arabischen, die islamischen Wissenschaftler stellten die Wissenschaft nicht schroff dem Leben gegenüber. Sie waren schulbildend, eben Scholastiker, um es in einer auf Wissen beruhenden Gesellschaft dem Menschen zu ermöglichen, sich in der Welt zurechtzufinden.

John Freely ist ein dem Leben zugewandter Historiker. Er möchte Fundamentalisten der westlichen Wertegemeinschaft zum Nachdenken anregen, um deren Stirn allerdings westliche Ideologen und Barbaren einen eisernen Ring gelegt haben.


John Freely: Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam
Klett-Cotta
John Freely: Platon in Bagdad Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam
John Freely: Platon in Bagdad Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam© Klett-Cotta