Delphine de Vigan: "Nach einer wahren Geschichte"

Als Protagonistin im eigenen Roman

Buchcover: Delphine de Vigans "Nach einer wahren Geschichte", rechts: die Autorin selbst.
Buchcover: Delphine de Vigans "Nach einer wahren Geschichte", rechts: die Autorin selbst. © Dumont / dpa / picture alliance / EPA / ANDREU DALMAU
Von Birgit Koß · 02.12.2016
In ihrem neuen Roman "Nach einer wahren Geschichte" stellt sich die französische Erfolgsautorin Delphine de Vigan - bekannt durch "Das Lächeln meiner Mutter" - dem Thema Fiktion und Wirklichkeit - und schreibt einen Roman über: die fiktive Schriftstellerin Delphine de Vigan.
Die Frage nach der Wahrheit ist so alt wie die Menschheit. In den sozialen Medien kann sich jeder mehrfach völlig neu inszenieren. Gleichzeitig ist Wirklichkeit, ist reales Leben attraktiv wie nie – insbesondere das von Prominenten.
Die französische Schriftstellerin Delphine de Vigan stellt sich dem Thema Fiktion und Wirklichkeit in der Literatur und schließt damit unmittelbar an ihr vorhergehendes Buch an, indem sie ihren neuen Roman über die Schriftstellerin Delphine de Vigan schreibt. Diese hatte mit ihrem vorhergehenden Roman "Das Lächeln meiner Mutter" großen Erfolg. Ihre Leser belagern sie regelrecht und wollen wissen, wie authentisch die Geschichte über das Leben und selbstbestimmte Sterben ihrer bipolaren Mutter sei.

Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit lösen sich auf

Die Autorin – in dem Roman – fühlt sich dem Ansturm kaum gewachsen, ist ausgelaugt und erhält dann auch noch anonyme Schmäh- und Drohbriefe, unter denen sie fast zusammenbricht. In dieser Situation lernt sie auf einer Party die attraktive, selbstsichere L. kennen. Die beiden Frauen freunden sich schnell an. L. zeigt sich als überaus verständnisvoll und einfühlsam. Als Ghostwriterin hat sie gelernt, ihrem Gegenüber in kürzester Zeit sehr nahe zu kommen und besonders aufmerksam zu beobachten.
Schrittweise verschafft sie sich Zugang zu Delphines Leben, das ihr durch Schreibblockade und Depression entgleitet. Spätestens als L. beginnt, eigenständig die Mails der Autorin zu beantworten und Termine abzusagen, wird die Grenzüberschreitung deutlich. Doch ist L. immer genau im richtigen Moment zur Stelle und bietet – als einzige? – tatkräftige Hilfe an.
Was als spontane und tiefgreifende Freundschaft zweier Frauen begann, entwickelt sich zum Psychothriller, in dem sich die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit immer mehr auflösen. Wer ist L., die außer Delphine niemand zu kennen scheint? Nicht zuletzt durch die den Kapiteln vorangestellten Zitate von Stephen King werden die Leser in die Irritation geschickt. Auch das L., im Französischen gleichklingend mit "elle = sie", führt in diese Richtung.

Mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet

Um aber die Außen- und Innensicht des Romans noch weiter zu vermischen, diskutieren die beiden Freundinnen immer wieder über die Aufgabe der Literatur. Inwieweit sind Leser heute nur noch an der Wahrheit interessiert? Muss und kann ein Autor autobiografisch schreiben oder ist nicht jedes Schreiben schon ein Akt der Fiktionalisierung? Gibt es einen Unterschied zwischen der Wahrheit und der Wirklichkeit und wo beginnt die Grenze zur Fiktion?
Diese Fragen beantwortet Delphine de Vigan in ihrem neuesten Roman – natürlich - nicht, sondern stellt auf intelligente, äußerste unterhaltsame und spannende Weise die unterschiedlichen Sichtweisen zu diesem Thema in Bezug, spielt mit vielen literarischen Zitaten und hält dabei den dramatischen Spannungsbogen bis zum überraschenden Ende aufrecht.
Auch in persönlichen Gesprächen und bei Lesungen hält sie sich bei der Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt dieses Romans sehr bedeckt und trifft damit den Geschmack ihres Publikums.
"Nach einer wahren Geschichte" – allein schon der Titel kann sowohl in temporärer wie auch kausaler Weise gelesen werden – ist in Frankreich mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet worden. Ein überaus reizvoller und verstörender Roman.

Delphine de Vigan: "Nach einer wahren Geschichte"
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
Dumont Verlag, Köln, 2016
352 Seiten, 23 Euro

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