Delphine de Vigan: "Loyalitäten"

Ein gefährlicher Pakt des Schweigens

Buchcover Delphine de Vigan: "Loyalitäten". Im Hintergrund ein Kind vor einer Gardine.
In ihrem neuen Roman blickt Delphine de Vigan in die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen. © Dumont Verlag / picture alliance / Photoshot
Von Birgit Koß · 17.09.2018
Kinder stehen zu ihren Eltern - selbst wenn das Leben mit ihnen zur Hölle wird. Wie weit darf man gehen, um andere zu schützen? Wann muss man eingreifen? Delphine de Vigans Roman "Loyalitäten" ist ein Appell gegen das Wegsehen und Schönreden.
Die französische Bestseller-Autorin Delphine de Vigan spielte in ihrem vorletzten Buch "Nach einer wahren Geschichte" so virtuos mit ihrer eigenen Person und den Erwartungen ihrer Leser, dass sich die Frage aufdrängte, was kommt danach. Auch in ihrem neuen Roman blickt sie analytisch in die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen, doch nun aus einem ganz anderen Blickwinkel. Der Titel "Loyalitäten" eröffnet ein weites Feld. Loyal sein mit den Eltern, dem Ehepartner, den Freunden und Kollegen, aber auch mit sich selbst - der eigenen Wahrnehmung. Dies kann in die Katastrophe führen, aber auch den Weg daraus eröffnen.
Geschickt verknüpft die Autorin das Schicksal von vier Menschen miteinander und erzeugt damit den Sog in die Geschichte. Da ist zunächst der zwölfjährige Theo Lubin. Er ist ein guter Schüler, nur etwas zu still – aber sind das nicht die meisten in diesem Alter, fragt der Schulleiter die besorgte Lehrerin Hélène Destrée. Sie spürt, dass mit Théo etwas nicht stimmt, hat aber keine sichtbaren Anhaltspunkte, um direkt einzugreifen. Ihre Sensibilität liegt in ihrer eigenen Kindheit begründet. Über Jahre ist Hélène von ihrem Vater schwer misshandelt worden, ohne dass ihre Umgebung davon etwas bemerkte. "Ich weiß, dass Kinder ihre Eltern schützen und dass dieser Pakt des Stillschweigens sie manchmal das Leben kostet."

Verschwiegen und loyal

Théos Eltern sind geschieden und er lebt abwechselnd eine Woche bei seinem Vater und bei seiner Mutter. Dieses Arrangement – zum Wohle des Kindes – ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Die Mutter wird noch nach Jahren völlig vom Hass auf ihren Exmann zerfressen, ist verbittert und unsicher. Der Vater, ehemals Ingenieur, ist inzwischen arbeitslos, hochgradig depressiv und medikamentenabhängig. Theo, von dieser Situation komplett überfordert, wagt es nicht, sich Hilfe zu holen. Da der Vater von ihm Schweigen einfordert, bleibt er loyal.
Wohl fühlt sich Théo nur mit seinem Freund Mathis. Dessen Loyalität zu Théo wird auf eine harte Probe gestellt, als Mathis bemerkt, dass der gemeinsame, heimliche Alkoholkonsum für Théo immer wichtiger wird und er die Grenzen beim Trinken komplett überschreitet. Die vierte Person in diesem knappen, aber inhaltsreichen Roman ist Mathis Mutter Cécile, die ebenfalls spürt, dass Théo Probleme hat, aber zu sehr mit der Beziehung zu ihrem Ehemann und ihrer eigenen Familiengeschichte beschäftigt ist.

Hinschauen und Handeln!

Abwechselnd, in kurzen Kapiteln, lässt die Autorin ihre vier Protagonisten zu Wort kommen. Dabei findet sie sowohl für die Erwachsenen als auch für die beiden Jungen den richtigen Ton. Mit klarer, prägnanter Sprache erzählen beide Frauen aus der Ich-Perspektive, meist in der Gegenwart. Die Kapitel von Théo oder Mathis sind in der dritten Person in der Vergangenheitsform verfasst. Das sich schnell abzeichnende Drama stellt die darin verwickelten Personen vor große Herausforderungen. Wie weit darf oder muss man gehen, um die anderen zu schützen? Was heißt Loyalität wirklich? Delphine de Vigan stellt sich, wie schon in ihren früheren Romanen, hinter die Schwachen in der Gesellschaft. Mit unerbittlicher Schärfe entlarvt sie verkappte, kaputte Strukturen im Schulwesen und in den Familien. Sie fordert in einer Zeit des Wegsehens und Schönredens vehement und kompromisslos dazu auf, hinzuschauen und zu handeln – auch wenn es unbequem ist.

Delphine de Vigan: Loyalitäten
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
Dumont Verlag, Köln 2018
175 Seiten, 20 Euro

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