Deftige Worte im Elite-Internat

22.12.2010
Liebe in einem kanadischen Elite-Internat: Zwei Jungs verlieben sich in das gleiche Mädchen. Der eine ist schüchtern, der andere ein Mädchenschwarm. Aber plötzlich ist das Mädchen verschwunden. Bemerkenswert an dem Roman ist die Erzählweise.
Zwei Diplomatensöhne, Noel und Julius, teilen im kanadischen Elite-Internat St. Ebury ein Zimmer. Beide könnten unterschiedlicher kaum sein, aber sie verlieben sich in das gleiche Mädchen: die hinreißende Fall. Noel, in sich gekehrter Bücherfreund und Gewichtestemmer, wird wegen eines Augenleidens Zwinkie genannt und muss schon bald einsehen, dass er gegen den Mädchenschwarm Julius keine Chance hat. Also versucht er es auf die verschlagene Tour. Unter einem Vorwand lockt er das Mädchen zu einem vermeintlichen Treffen mit Julius. Danach gilt Fall als verschwunden. Als die Polizei im Internat ermittelt, ist es mit der jugendlichen Sorglosigkeit der Schüler endgültig vorbei. Doch keinem ist etwas nachzuweisen. Noel muss ein Jahr in einer Besserungsanstalt verbringen.

Bemerkenswert ist die Herangehensweise von Colin McAdam an den erzählten Stoff. Noel und Julius wechseln sich als Erzähler ab und geben oft die gleichen Erlebnisse wieder, fassen sie jedoch in Worte, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Das ist eine ganze Weile interessant, denn auch formal spiegeln sich darin die unterschiedlichen Sicht- und Ausdrucksweisen zweier Jugendlicher. Oft wirkt es aber nur noch selbstverliebt und überambitioniert. Interessanterweise werden die Gedanken des Mädchens, Fall, niemals direkt, sondern nur aus der Sicht von Noel und Julius wiedergegeben.

Colin McAdam, der unter anderem in Kanada aufgewachsen ist, verarbeitet ohne Zweifel eigene Lebenserfahrungen in einem düsteren Internat, streng geführt nach anglikanischen Regeln. Mit männlichen Teenagern einerseits, die kraftmeiernd nur an das Eine denken. Und wenn sie dann zum Zuge kommen, scheu werden, und weiblichen Teenagern andererseits, die kokett auf den passenden Augenblick warten, um ihn, wenn er endlich da ist, schamhaft verstreichen zu lassen.

Das Buch ist ohne Zweifel für Männer geschrieben. Es wird gefurzt, gekotzt und gesoffen, euphemistische Ausdrücke sind McAdams Sache nicht. Der Autor führt noch einen dritten Erzähler ein: William, einen Chauffeur, der Julius hin und wieder einen Wagen leiht, damit dieser Fall imponieren kann. Die Frauen und Mädchen im Buch bekommen keine eigene Stimme, es ist, als fragte man sie nicht.

Colin McAdam versucht in "Fall" zu viel auf einmal: Knapp 400 Seiten bersten geradezu vor einer Mischung aus Charakterstudie, Psychothriller, Internatsroman und Coming-of-Age-Drama; das Ganze in einer Sprache, an die man sich nur schwer gewöhnen kann, mag sie auch noch so kunstvoll sein. Weniger wäre hier mehr gewesen.

Und so groß ist die Überraschung dann ja auch nicht: Noel und Julius, die beiden Zimmergenossen, schätzt man zunächst falsch ein. Der gut aussehende Julius nimmt anfangs wenig Rücksicht auf seine Kameraden, und auch seine Sprache ist drastischer, vulgärer als die seines Zimmerkollegen. Bald wird jedoch offensichtlich, dass der vermeintliche Feingeist Noel ein rücksichtsloser Grobian ist. Doch braucht man dazu knapp 400 Seiten?

Besprochen von Roland Krüger

Colin McAdam: Fall
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010
392 Seiten, 24,90 Euro
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