Debatte um die deutsche Leitkultur

Das Grundgesetz ist kein Götze

Eine Ausgabe des Grundgesetzes, fotografiert am 04.11.2015 in Berlin. Versehen mit Denkfabrik-Stempel
Verfassung der Bundesrepublik Deutschland: Hier ist auch das Sonntagsgebot geregelt. Halten wir uns dran? © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Boris Kalbheim · 23.05.2017
"Es gilt das Grundgesetz!" - Mit diesem Verweis wollen Kritiker die manchmal etwas ermüdende Debatte um die Leitkulturthesen von Thomas de Maizière auf dem kurzen Dienstweg beenden. So einfach ist das aber nicht, meint unser Autor Boris Kalbheim.
Als Martin Luther unsere Sprache prägte, da prägte er auch das schöne Wort "Götze". Damit bezeichnete er Bilder und Steine, die angebetet wurden. Eine besondere Eigenschaft hatte der Götze: Er änderte sich nicht. Die Zeusstatue von Olympia, eines der sieben Weltwunder, bestand über 500 Jahre. Sie wurde mit Opfern überhäuft, angeschaut, verehrt – aber nie verändert.
Was haben diese alten Geschichten mit der Gegenwart zu tun? Wenn Herr de Maizière etwas von "Leitkultur" erzählen will, dann fahren seine Kritiker ihm in die Parade mit dem Argument: Wir haben doch das Grundgesetz. Ist das Grundgesetz ein Götze?

Die Verfassung: eine Sammlung unserer Werte?

Das Grundgesetz ist eine wunderbare Sache. Mein Lieblingsartikel nach der Präambel ist der Artikel 2: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."
So klar hat wohl sonst niemand die Freiheit des Menschen formuliert.
Doch ist das Grundgesetz die Richtschnur unserer Gesellschaft? Ist es die Sammlung unserer Werte, auf die sich alle einigen? Was hat die Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern oder die Farben der Bundesfahne mit unseren Werten zu tun?
Welche Kraft schöpfen die Menschen in unserer Gesellschaft aus dem Artikel 27: "Alle deutschen Kauffahrteischiffe bilden eine einheitliche Handelsflotte."?

Das Grundgesetz ist 50 mal geändert worden

Und wenn dem so wäre, wenn das Grundgesetz die Sammlung unserer Werte wäre, dann wäre das Sonntagsgebot rigoros durchzuführen, denn das steht in unserem Grundgesetz, in zitiere: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt."
Versuchen wir doch einmal, diesen Wert unserer Gesellschaft in St. Pauli durchzusetzen.
Nein, das Grundgesetz ist kein Götze. Es ist nicht unveränderlich. Das Grundgesetz ist mehr als 50 Mal geändert worden, und es ist noch keine 70 Jahre alt.
Weitere Änderungen stehen an: Ob die Ehe für alle oder die Auflösung der Dualität der Geschlechter – beides bedeutet Änderungen im Grundgesetz und beides wird aktiv betrieben. Vielleicht von der Mehrheit der Gesellschaft, vielleicht von einer Gruppe von Aktivisten. Aber sicher nicht vom Grundgesetz.

Werte werden zum Gesetz

Wer also meint, das Grundgesetz sei der Wertekanon Deutschlands, der irrt. Es ist umgekehrt: Was in Deutschland Wert gehalten wird, das wird das Grundgesetz.
Das kann direkt geschehen, wie in Artikel 10, Absatz 2, dem Artikel zum Schutz des Post und Fernmeldegeheimnisses.
Dort heißt es: "Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt."
Oder es geschieht indirekt, durch die Interpretation des Grundgesetzes. Etwa bei der Schulpflicht, die ist nirgendwo im Grundgesetz verankert, aber in allen Bundesländern gesetzlich vorgeschrieben.

Leitkultur und Grundgesetz?

Ob die Meinung von Thomas de Maizière zu einer sogenannten "Leitkultur" richtig ist oder nicht – es ist Unsinn, dagegen mit dem Grundgesetz zu argumentieren.
Vielmehr braucht es eine solche Debatte um die Art, wie wir leben wollen – gerade um dem Grundgesetz seine Wertschätzung zu erhalten, gerade um das Zusammenleben zu gestalten im Sinne des Artikels 2: Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Boris Kalbheim, 49, hat in Deutschland und Frankreich Theologie studiert, war wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Niederlanden und ist gegenwärtig akademischer Rat für die Lehrerausbildung an der Universität Würzburg.


Der Theologe Boris Kalbheim
© Foto: privat
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