Debatte um deutsche Erinnerungskultur

"Wir brauchen keinen Traditionserlass"

Im Hof eines Hauses in München sind in den Boden Stolpersteine eingelassen - eine Verlegung auf öffentlichem Grund ist dort nicht möglich. Die in ganz Europa verteilten Gedenktafeln des Künstlers Gunter Demnig sollen an das Schicksal der Menschen erinnern, die im Nationalsozialismus vertrieben, deportiert und ermordet wurden.
Im Hof eines Hauses in München sind in den Boden Stolpersteine eingelassen - eine Verlegung auf öffentlichem Grund ist dort nicht möglich. © picture-alliance / dpa / Andreas Gebert
Ulrich Herbert im Gespräch mit Dieter Kassel · 18.04.2018
Würde ein "Traditionserlass" zum Umgang mit der deutschen Geschichte gegen AfD-Forderungen nach einer "erinnerungspolitischen Wende" helfen? Nein, sagt der Historiker Ulrich Herbert: Gesellschaftliche Debatten können nicht von oben verordnet werden.
Angesichts von Versuchen einiger AfD-Politiker wie Björn Höcke, eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" einzuleiten, forderten der frühere israelische Botschafter in Deutschland Shimon Stein und der Historiker Moshe Zimmermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Traditionserlass für die deutsche Geschichte.
"Schön wäre es, wenn nicht allein für die Bundeswehr, sondern ganz allgemein ein 'Traditionserlass' Geltung gewinnen könnte, der für den Umgang mit kollektiver Erinnerung Richtlinien anbietet - nicht als Verordnung oder gar, wie neuerdings in Polen, als gesetzliche Grundlage für Strafverfolgung, sondern als Orientierungshilfe, um einem eventuellen Kurswechsel zuvorzukommen oder ihn wenigstens feststellen zu können", schreiben die beiden Autoren.

Die öffentliche Debatte ist der einzige Weg

Der Historiker Ulrich Herbert, Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Freiburg, hält nichts von diesem Vorstoß. Einen solchen Erlass brauche man nicht, sagte er im Deutschlandfunk Kultur.
"Die Vorstellung, dass der Staat zu bestimmen hat, was in der Gesellschaft diskutiert wird, ist ja völlig absurd."
Die einzige Möglichkeit, mit erinnerungspolitischen Interventionen rechter oder rechtsradikaler Politiker umzugehen, ist für Herbert die öffentliche Debatte. Der Konsens über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit sei "durch jahrzehntelange Auseinandersetzung, durch Aufklärungen, durch Debatten, durch Filme und Bücher" entstanden.
"Und etwas Anderes bleibt uns ja jetzt auch nicht."
Der Historiker Ulrich Herbert.
Der Historiker Ulrich Herbert.© imago stock&people
Darüberhinaus teilt Herbert die Sorge von Stein und Zimmermann nur bedingt, dass es tatsächlich eine Trendwende in der Erinnerungskultur gebe:
"Die ist schon nicht ganz unberechtigt, aber ich glaube, sie übertreiben etwas."
Man müsse auch sehen, dass viele Positionen, wie sie derzeit von Björn Höcke oder Alexander Gauland vertreten würden, vor 20 Jahren durchaus noch innerhalb der Union vorhanden gewesen seien.

Bis zu 20 Prozent rechtsradikalem Gedankengut nahe

Und man dürfe nicht vergessen, dass alle Untersuchungen zeigten, dass 10 bis 20 Prozent der Menschen in Deutschland "potenziell oder tatsächlich rechtsradikal" dächten.
"Das war auch schon in den 90er- oder 80er-Jahren nicht anders."
Er sehe in der Bundesrepublik eine sehr starke Mehrheit, "die einerseits gut aufgeklärt sind, über das, was dort geschehen ist und zum anderen auch eine klare Position haben", betont Herbert.
"Ich glaube, dass man sich jetzt nicht verstecken muss angesichts dieser Angriffe".
(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Alexander Gauland hat die Verdienste der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gelobt, sein AfD-Parteikollege Björn Höcke eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert, ein inzwischen abgesetzter Bürgermeister in Rheinland-Pfalz den schönen Klang der sogenannten Hitler-Glocke verteidigt.
Das und noch so einiges mehr hat den Historiker Moshe Zimmermann und den früheren israelischen Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, dazu veranlasst, in einem gemeinsamen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Traditionserlass zu fordern, wie wir ihn von der Bundeswehr kennen, nur eben einen für das ganze Land.
Brauchen wir den, und könnte er überhaupt einen sinnvollen Zweck erfüllen? Dazu jetzt bei uns Ulrich Herbert, Professor für neuere und neuste Geschichte an der Universität Freiburg. Schönen guten Morgen, Herr Herbert!
Ulrich Herbert: Guten Morgen!

Organisierte Angriffe der AfD auf den Erinnerungskonsens

Kassel: Zimmermann und Stein klingen in diesem Text ein bisschen so, als hätte die von AfD-Mann Höcke geforderte 180 Grad-Wende bereits begonnen. Hat sie das?
Herbert: Nein! Ich glaube, die Sorge der beiden Autoren, dass es so eine Trendwende in der Erinnerungskultur gibt, die ist schon nicht ganz unberechtigt, aber ich glaube, sie übertreiben etwas.
Wir haben, durch die AfD im Bundestag jetzt seit einigen Monaten schon eine neue Situation, die sich durch organisierte Angriffe auf gewissermaßen den bisherigen Konsens oder mehrheitlich getragenen Konsens in Bezug auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus auszeichnet. Das merkt man an verschiedenen Aspekten. Etwa, dass am Nationalsozialismus so manches Gute wiederentdeckt wird oder, jetzt ganz aktuell, dass es bei Rappern offenbar cool ist, Opfer des Holocausts zu verhöhnen.
Am rechten Rand organisieren sich Intellektuelle, und dabei verschwimmt die Grenze zwischen nationalkonservativ und rechtsradikal. Also das sind schon Elemente die auffallen, aber man muss doch sehen, dass viele dieser Positionen – etwa die, die Höcke vertreten hat, oder Gauland – vor 20 Jahren durchaus auch in der Union noch vertreten worden sind. Denken Sie etwa an die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht", wo es große Demonstrationen von Wehrmachtsteilnehmern gegeben hat – unterstützt von der Union.
Das Neue ist, dass sich das gewissermaßen außerhalb des traditionellen Parteispektrums begibt und dadurch eine andere, ich würde mal sagen, Zuspitzung erfährt.

Eine Zwölf-Prozent-Partei ist nicht die Welt

Kassel: Aber gerade wenn Sie sagen, einiges war zum Teil Position der Union früher, die beiden Autoren, Zimmermann und Stein, sagen ja auch, was ihnen Sorgen macht, ist, dass eben diese Kritik am Erinnern, wie wir es bisher kannten, auch aus der gesellschaftlichen Mitte käme. Empfinden Sie das auch so?
Herbert: Nein, aus der Mitte nicht. Aber es hat sich eine, gewissermaßen auf der rechten, die ja traditionell zersplittert war, gewissermaßen organisatorisch und politisch, eine neue Konstellation ergeben – mit der AfD gewissermaßen als neuem Schwerpunkt – und um sie herum ein neues Feld, bis hin einerseits zu den von Neonazis und NPD, bis sozusagen zu den Nationalkonservativen, die über diese Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus neue Diskussionen führen, Verlage und ähnliches, die es dort gibt. Wir sollten das mit Sorge betrachten.
Aber ich glaube, man darf es auch nicht übertreiben, weil wir haben eine 12-Prozent-Partei, eine, ich würde mal sagen, nationalkonservative oder deutschnationale 12-Prozent-Partei im Bundestag. Das ist jetzt nicht die Welt. Und auch die übermäßige Aufmerksamkeit, die deren Provokationen erfahren – darauf legen sie es ja auch an – zeigt jetzt nicht, dass es in der Bevölkerung da größere Bewegungen gibt.
Zudem darf man nicht vergessen, wir hatten immer – alle Untersuchungen haben das festgestellt – eine Gruppe zwischen 10 und 20 Prozent von potenziell oder tatsächlich rechtsradikal denkenden Menschen in Deutschland. Das war auch schon in den 90er- oder 80er-Jahren nicht anders.
Und das Wichtige ist, dass jetzt nicht – sagen wir mal, durch einen Traditionserlass, ich verstehe den Begriff auch eher metaphorisch oder bildlich von den beiden Autoren -, dass wir uns Sorge machen müssten, wie sozusagen dieser Konsens beibehalten werden kann. Dann muss man fragen: Wie ist er denn entstanden? Durch jahrzehntelange Auseinandersetzung, durch Aufklärungen, durch Debatten, durch Filme und Bücher, und etwas Anderes bleibt uns ja jetzt auch nicht.
Die Vorstellung, dass wir das von oben her regeln könnten, die ist ja nicht wirklich ernst gemeint und auch nicht ernst zu nehmen.

Manche Jugendliche wollen Tabus brechen

Kassel: Kurz zurück auf ein brandaktuelles Beispiel, dass sie selber vorhin ja schon gebracht haben – die Vergabe des Musikpreises Echo an die Rapper Kollegah und Farid Bang. Das kann man ja so oder so sehen. Man kann sich, berechtigterweise, darüber entsetzen, dass die diesen Preis bekommen haben, aber man darf ja auch nicht vergessen, wie jetzt darauf reagiert wird – Musiker geben den Preis zurück, es wird öffentlich heftig Kritik geübt, und die deutsche Musikindustrie will ihn so grundsätzlich überarbeiten, dass man sogar vermuten könnte, den Namen Echo wird es hier nie wieder geben. Da kann man ja auch sagen, die Reflexe funktionieren ja auch alle, wir brauchen keinen Erlass.
Herbert: Nein, einen Erlass brauchen wir sowieso nicht. Ich halte das also für eine, sagen wir mal, spielerische Provokation. Die Vorstellung, dass der Staat zu bestimmen hat, was in der Gesellschaft diskutiert wird, ist ja völlig absurd. Zudem ist es völlig kontraproduktiv.
Aber interessant ist an dieser Geschichte mit Kollegah, dass es offenbar in Teilen der Rapper-Szene – die ist nicht nur rechtsradikal, sondern die geht in Teile der Jugendlichen hinein, die sich für unpolitisch halten – irgendwie schick ist, bestimmte Tabus zu brechen. Und das größte Tabu, das wir in Deutschland haben, ist dasjenige, dass man über die Opfer des Holocaust, die Opfer der deutschen Vernichtungspolitik geworden sind, nicht spottet. Und dieses Tabu zu durchbrechen, erfüllt offenbar einen gewissen Coolness-Faktor.
Das ist nicht ganz neu. Es war immer schon an Schulen - nicht gang und gäbe, aber es kam vor - dass auf diese Weise provoziert wurde … Wir müssen auch aufpassen, dass wir nicht über jedes Stöckchen, das dort hingehalten wird, auch springen.
Ähnlich sehe ich auch viele Interviews oder Interventionen von rechten und rechtsradikalen Politikern, die eigentlich nur darauf warten, dass die Presse auf diese Weise auf sie einspringt. Ich sehe schon, dass wir in der bundesrepublikanischen Gesellschaft eine starke, eine sehr starke Mehrheit haben, die einerseits gut aufgeklärt sind über das, was dort geschehen ist, und zum anderen auch eine klare Position haben. Ich glaube, dass man sich jetzt nicht verstecken muss angesichts dieser Angriffe.

"Abwegig", das von oben zu verbieten

Kassel: Aber muss man nicht umgekehrt auch vorsichtig sein, mit einer AfD in fast allen Landtagen, inzwischen im Bundestag und vielen anderen Phänomenen, dass man, wenn man das tut, was Sie zurecht gerade gefordert haben, nämlich, nicht über jedes Stöckchen zu springen, dass man sich andererseits auch nicht einfach daran gewöhnt und sagt, es gibt diesen Grundton des deutlich rechts von der Mitte Argumentierens, und so lange das nicht illegal ist, was gesagt wird, nehmen wir es einfach hin?
Herbert: Ja, das geschieht ja nicht. Aber ich will noch mal darauf verweisen: Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist die der öffentlichen Debatte. Wir haben weder eine Möglichkeit der Verbote, außer in ganz extremen Fällen, die ja rechtlich geregelt sind, also Holocaustleugnung oder Ähnliches, aber ansonsten gibt es nur die Möglichkeit der offenen Auseinandersetzung.
Und wenn ich mir überlege, was in den Jahren, sagen wir mal in den letzten 50 Jahren, seit Anfang der 60er- oder Mitte der 60er-Jahre in der Bundesrepublik an Diskussionen geführt worden ist, an Debatten, an Auseinandersetzungen, sind sicherlich 10 oder 15 große, öffentlich geführte Auseinandersetzungen gewesen, über Goldhagen und über die Zwangsarbeiter und über vieles andere, diese Gesellschaft hat sich ja nun wirklich seit Jahrzehnten damit intensiv auseinandergesetzt, und das hat auch seine Folgen gehabt und hat Konsequenzen gehabt.
Dass also Versuche von rechts und ganz rechts, diese Fragen noch mal für sich zu gewinnen, zurückgewiesen worden sind. Und nur diese Möglichkeit gibt es. Alles andere, die Vorstellung, man könnte das von oben verbieten, ist völlig abwegig.
Kassel: Ulrich Herbert, Professor für neuere und neuste Geschichte an der Uni Freiburg zu dem Vorschlag seines israelischen Kollegen Moshe Zimmermann und des ehemaligen israelischen Botschafters in Deutschland, Shimon Stein, zu einem Traditionserlass für ganz Deutschland. Herr Herbert, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Herbert: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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