Debatte um Arte-Doku

Politologe kritisiert linken Antisemitismus

Die israelische Flagge weht im Wind.
Teile der europäischen Linken hätten ein "ressentimenthaftes Verhältnis gegenüber Israel", so Grigat © dpa / Jens Kalaene
Stephan Grigat im Gespräch mit Liane von Billerbeck  · 15.06.2017
Stephan Grigat ist einer der Experten, die in der von Arte nicht ausgestrahlten TV-Doku "Auserwählt und ausgegrenzt" zu Wort kommen. Der Politologe kritisiert einen Antisemitismus bei Teilen der europäischen Linken: Es gebe eine Dämonisierung des Staates Israel und eine Verzerrung des Nahostkonflikts.
In der Linken artikuliere sich ein radikaler Anti-Zionismus und eine verzerrende Darstellung des Nahost-Konflikts, bei der die Schuld an diesem Konflikt allein Israel zugeschrieben werde, sagte der Politikwissenschaftler an der Universität Wien, Stephan Grigat im Deutschlandfunk Kultur. Hinzu komme eine Kapitalismuskritik, in der sich eine von Ressentiments bestimmte Sicht auf die bestehende Gesellschaft spiegele und auch dort gebe es "eine offene Flanke" zum Antisemitismus.
"Ich denke, dass in den allermeisten Ausprägungen dieser Anti-Zionismus innerhalb der Linken nichts anderes ist, als eine Art geopolitische Reproduktion des Antisemitismus", sagte Grigat. Dabei finde eine Dämonisierung von Israel statt, der Staat Israel werde delegitimiert.
"Und es werden immer wieder doppelte Standards gegenüber dem jüdischen Staat angewendet", beklagte der Wissenschaftler.
"Es werden Dinge an Israel kritisiert, die man bei anderen Staaten schlichtweg ignorieren oder für völlig normal halten würde."
Grigat ist einer der Experten, die in "Auserwählt und ausgegrenzt" zu Wort kommen. Die TV-Dokumentation wurde von ARTE und WDR aus inhaltlichen Gründen nicht ausgestrahlt. Das hatte wiederum eine kontroverse Debatte ausgelöst. Die "Bild"-Zeitung stellte sie diese Woche für kurze Zeit online.

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Ein Dokumentarfilm, der wegen handwerklicher Fehler von ARTE und WDR zurückgezogen wurde. "Auserwählt und ausgegrenzt" heißt er, "Der Hass auf Juden in Europa", so sein Titel – man kann ihn auf YouTube sehen. Wir wollen aber heute nicht über die Gründe der Nichtausstrahlung diskutieren, sondern über ein Thema, das darin auch diskutiert wird, den Antisemitismus der europäischen Linken nämlich. Und einer der Experten, der in dem Dokumentarfilm zu Wort kommt, ist Stefan Grigat, Politikwissenschaftler von der Universität Wien. 2016, 2017 war er Gastprofessor am Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, und er hat das Buch geschrieben "Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung". Herr Grigat, schönen guten Morgen!
Stephan Grigat: Schönen guten Morgen!
von Billerbeck: Sie haben den linken Antisemitismus in Deutschland erforscht. Was wird denn da aktuell in solchen Diskursen gesprochen?
Grigat: Ich denke, es geht, wenn wir über Antisemitismus in der Linken auch in Deutschland reden, vor allem um zwei Punkte. Zum einen ist das natürlich das Verhältnis zu Israel, die Sicht auf Israel. Also einmal radikaler Antizionismus, der sich in großen Teilen dieser Linken artikuliert, mitunter aber auch einfach ein ressentimenthaftes Verhältnis gegenüber Israel, also eine verzerrende Darstellung des Nahostkonflikts, wo immer wieder nur Israel Schuld an diesem Konflikt sein soll. Und auf der anderen Seite eine spezifische Form der Kapitalismuskritik, die, wie ich denke, letzten Endes gar keine wirkliche Kritik am Kapitalismus ist, sondern die eher eine ressentimenthafte Sicht auf die bestehende Gesellschaft ist. Und auch dort gibt es eine offene Flanke zum Antisemitismus.

Geopolitische Reproduktion des Antisemitismus

Lassen Sie mich kurz was zum Antizionismus sagen: Ich denke, dass in den allermeisten Ausprägungen dieses Antizionismus innerhalb der Linken (das) eigentlich nichts anderes ist als so eine Art geopolitische Reproduktion des Antisemitismus. Um eine berühmte Formulierung aufzugreifen: Israel wird quasi als Jude unter den Staaten behandelt, es findet eine Dämonisierung von Israel statt. Israel wird delegitimiert, und es werden immer wieder doppelte Standards gegenüber dem jüdischen Staat angewendet, das heißt, es werden Dinge an Israel kritisiert, die man bei anderen Staaten schlicht und einfach ignorieren würde oder für völlig normal halten würde.
von Billerbeck: Das ist sozusagen die Gretchenfrage, die Haltung zu Israel, und ich bin mir bewusst, wie schwierig schon diese Frage ist, denn Israel gibt es genauso wenig wie Deutschland. Das ist ja das Schwierige: Wenn ich radikale israelische Siedler kritisiere, kritisiere ich ja nicht Israel.

Kritik, die auf den Staat Israel abzielt

Grigat: Ja, aber dieser Hinweis auf diese Siedlungsdiskussion – in Wirklichkeit, wenn man dann genauer hinguckt, merkt man, dass in sehr vielen Formulierungen, die in dieser antizionistischen Linken gebraucht werden, es selbstverständlich auf den Kern des Staates Israel selber abzielt. Ich glaube, dass in vielen Diskussionen es in gewisser Weise eine Ausrede ist, man würde ja nur gewisse Formen der aktuellen Regierung kritisieren oder nur die Siedlungspolitik. Selbstverständlich ist das etwas, was in der israelischen Gesellschaft selbst von morgens bis abends stattfindet.
Und ich denke, ehrlich gesagt, das ist dort auch ganz gut aufgehoben. Denn die ganzen real existierenden Probleme im Nahen Osten müssen letztlich von den Menschen, die dort leben, gelöst werden. Und auch die israelische Linke braucht nicht wirklich permanente Ratschläge von irgendwelchen Antizionisten aus Deutschland. Das Problem an diesen Diskussionen hier in Deutschland ist aber nicht nur dieser radikale Antizionismus, der explizit das Existenzrecht Israels in Frage stellt – auch das gibt es ja innerhalb der Linken –, sondern es sind durchaus die sich selbst wahrscheinlich als gemäßigt und ja lediglich Israel-kritisch verstehenden Formulierungen.
Da gibt es dann häufig die Formulierung, wo man großherzig ein Existenzrecht Israels anerkennt, als wenn man plötzlich die UNO wäre. Es ist so ein bisschen absurd, weil die Linke nicht irgendwelche Existenzrechte anerkennen kann. Aber das wird getan. Und dann aber, in einem nächsten Schritt, werden Forderungen an Israel gestellt, die, wenn sie erfüllt werden würden, dieses Existenzrecht aber gerade in Frage stellen würden. Das ist sozusagen die modernere, etwas gemäßigte Form von diesem Antizionismus, und die halte ich aber auch für ausgesprochen problematisch.

Bedürfnis nach Relativierung auch in der Linken

von Billerbeck: In dem anfangs erwähnten Dokumentarfilm "Auserwählt und ausgegrenzt", da sagen Sie, große Teile der Linken hätten ein spezifisches Bedürfnis, den Nationalsozialismus zu relativieren. Das klingt ja erst mal absurd, denn Linke sehen sich doch auf der Gegenseite des NS-Regimes. Warum geschieht das?
Grigat: Ja, selbstverständlich sehen sie sich auf der Gegenseite des NS-Regimes. Das ist in der Dokumentation tatsächlich auch etwas unglücklich geschnitten, weil ich da vorher eine lange Ausführung gemacht habe, und in diesem spezifischen Kontext verweise ich darauf, dass es auch in der Linken dieses Bedürfnis zu einer Relativierung gibt.
Und damit meine ich, dass der Nationalsozialismus für die Linke, für das linke Projekt des Klassenkampfs und letzten Endes der Weltrevolution, die durch die Arbeiterklasse verwirklicht werden soll, eine massive Kränkung und natürlich eine historische Niederlage war. Und in großen Teilen der Linken hat man das aber schlicht und einfach versucht zu ignorieren und zu verdrängen.
Das heißt, man hat nach 1945 so getan, als könnte man einfach wieder an den 1930er-, 1920er-Jahren anknüpfen, auf den Klassenkampf setzen, auf das Proletariat. Was man nicht sehen wollte, ist der massive Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus, der eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, die Arbeiterklasse in die deutsche Volksgemeinschaft zu integrieren. Das heißt, im Nationalsozialismus sind die Proletarier tatsächlich zu, um eine bekannte Formulierung zu verwenden, zu "Prolet-Ariern" geworden.

Festhalten am geliebten Klassenkampf

Es gibt natürlich linke Traditionen, wo genau das thematisiert wurde, nämlich die ganze Kritische Theorie vor allem Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Sie waren diejenigen, darauf verweise ich ja auch in der erwähnten Dokumentation, sie waren diejenigen, die genau diese unglaubliche historische Niederlage und diese Katastrophe, also den Vernichtungsantisemitismus ... sich die Frage zu stellen, was bedeutet das eigentlich für materialistische, für linke Gesellschaftskritik. Große Teile der Linken haben aber genau das ignoriert und haben dann dementsprechend auch auf die Kritische Theorie vor allem vom Adorno mit großen Ressentiments, mit Ablehnung reagiert, um am geliebten Klassenkampf festzuhalten.
von Billerbeck: Stefan Grigat war das über Antisemitismus in der europäischen Linken, Politikwissenschaftler von der Universität Wien. Ich danke Ihnen für das Gespräch, das mit Sicherheit für weitere Diskussionen sorgen wird.
Grigat: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Literaturtipp:
Stephan Grigat: "Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke und iranische Bedrohung"
Konkret Verlag 2014, 19 Euro.

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