Debatte über Abkommen mit der Türkei

Offene Grenzen sind das Gebot der Stunde

Ein Panzer fährt an der türkisch-syrischen Grenze nahe Reyhanli in der Provinz Hatay.
Ein Panzer fährt an der türkisch-syrischen Grenze nahe Reyhanli in der Provinz Hatay. © dpa-Bildfunk / EPA / TOLGA BOZOGLU
Von Christian Jakob · 06.08.2016
Präsident Erdoğan droht mit der Aufkündigung des Flüchtlingspakts. Das wäre keine Katastrophe, meint Christian Jakob von der "taz". Ankara solle nicht für die geschlossene EU-Grenze bezahlt werden, sondern dafür, dass es die Grenze zu Syrien wieder öffnet.
Wenn über den Türkei-Deal gesprochen wird, dann ist stets von dessen Folgen außerhalb Syriens die Rede: Der Lage in der Türkei, in Griechenland, den Balkanstaaten. Die Öffentlichkeit interessiert, welche Fluchtrouten verschlossen werden, wie Schlepper bekämpft, wie Flüchtlinge aufgeteilt werden. Die meisten Flüchtlinge aber haben es nicht einmal geschafft, Syrien zu verlassen. Über sechs Millionen Menschen sitzen fest in dem kriegsgeschüttelten Land. Und das nicht nur die Schuld der Dschihadisten und des Assad-Regimes. Es ist auch die Schuld Europas.

Die EU ist erpressbar geworden

Mit dem Flüchtlingsabkommen ist die EU erpressbar geworden. Und es hat ihr jede Möglichkeit genommen an die Türkei zu appellieren, einen Ausweg für die Menschen in Syrien offenzuhalten. Zur Wahrheit gehört: Die Türkei hat etwa 2,7 Millionen Menschen aus Syrien Zuflucht geboten – mehr als jedes andere Land. Hilfe von außen bekam sie dafür nur wenig. Die Grenze wurde so immer undurchlässiger. Und seit die Türkei die Flüchtlinge auf Wunsch Brüssels nicht mehr zu uns weiterziehen lässt, hat sie die Grenze nach Syrien endgültig geschlossen. Selbst wem es gelingt, aus belagerten Städten wie Aleppo zu fliehen, wird an der türkischen Grenze zurückgewiesen. Auch das ist eine Folge des EU-Türkei-Deals.
Wohl keine politische Vereinbarung in dieser Zeit hat eine ähnliche Sprengkraft, wie dieses Abkommen. Die politische Krise um die Flüchtlinge im letzten Jahr bedrohte die Kanzlerschaft von Angela Merkel, brachte den Aufstieg der AfD und anderer Rechtsparteien. Sie gefährdete das Schengener Abkommen und damit die EU insgesamt. Erdoğan weiß das. Und er reizt dies aus. Unverblümt, ohne diplomatische Rücksichtnahme. In den drei Wochen seit dem Putschversuch haben sich die EU und die Türkei weiter voneinander entfernt, als es zuvor möglich schien.

Europa darf die Flüchtlingsfrage wegschieben

Auf Erdoğans so genannte Säuberungen vermochte Europa keine Antwort zu geben. Zu sehr ist es in Erdoğans Hand. Und nun drängt die Türkei auch auf die Visafreiheit für ihre Bürger. Bis Oktober. Sonst, so droht sie, werde sie die Grenze nach Europa wieder öffnen. Doch so, wie die Dinge liegen, wird es keine Visafreiheit geben. Was also wird aus dem Flüchtlingspakt? Konservative Politiker wollen die EU-Beitrittsverhandlungen beenden, an dem Abkommen aber festhalten – eine schizophrene Haltung. Ankara wird sich darauf nicht einlassen. Linke wie Parteichef Riexinger hingegen oder die SPD-Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Kofler stellen das Flüchtlingsabkommen jetzt offen in Frage.
Und in manchen Hauptstädten Europas wird über einen "Plan B" nachgedacht – für den Fall, dass die Türkei die Flüchtlinge nicht länger aufhält. Und das ist gut so. Noch besser wäre, sie würde ihm damit zuvorkommen. Denn dann wäre diese nicht länger von ihm erpressbar. Sie könnte endlich mit angemessenem Druck auf die Repression gegen Journalisten und Regimekritiker reagieren. Europa wäre so endlich gezwungen, sein Flüchtlingsproblem gemeinsam, innerhalb der EU zu regeln, statt es immer und immer wieder nur nach außen zu drücken. Und es hätte so die Möglichkeit, einen neuen Vertrag mit Ankara zu schließen. Denn die Türkei sollte nicht dafür bezahlt werden, die Grenze zur EU geschlossen zu halten. Sondern dafür, die mit Syrien wieder zu öffnen.

Christian Jakob arbeitet als Redakteur bei der Tageszeitung "taz" in der Abteilung Reportage und Recherche. Er kümmert sich schwerpunktmäßig um Migrationsfrgen, Soziale Bewegungen und Entwicklungsthemen.



© Kathrin Windhorst
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