David Gelernter: "Die Gezeiten des Geistes"

Wo ist das menschliche Bewusstsein geblieben?

Menschen in Businesskleidung liegen auf dem Rücken, als würden sie durchs Büro tanzen
Menschen zeigen Emotionen: Das moderne Denken halte Emotionen an der kurzen Leine, meint David Gelernter. © imago / Westend61
Von Rebecca Hillauer · 27.05.2016
Ist es nur eine Frage der Zeit, bis Computer dem menschlichen Geist überlegen sind? Das ist jedenfalls das Credo vieler Naturwissenschaftler. David Gelernter, Informatikprofessor an der Yale Universität, stellt diese Technikgläubigkeit vom Kopf auf die Füße.
David Gelernter: "Der menschliche Geist ist keine statische Maschine. Er verändert sich im Lauf eines jeden Tages. Er umfasst verschiedene Bewusstseinszustände und ist kein monolithischer Block. Genauso wie Licht nicht einfach orange ist: Im elektromagnetischen Spektrum besteht Licht aus vielen verschiedenen Farben."
Alle Denkprozesse – Gedächtnis, Emotion, Vernunft und Selbstreflexion – verändern sich laut David Gelernter entlang eines Spektrums, das vom physischen Zustand und der Tageszeit abhängt. Sie folgen einer Art von mentalem Biorhythmus. Im oberen Teil des Spektrums, wo die Computer-Analogie noch funktioniert, regierten Logik und zielgerichtetes Denken. Das Gedächtnis sei untergeordnet und diene der Sammlung von Daten. Langsam bewege der Geist sich dann in die untere Hälfte des Spektrums – hin zu Müdigkeit, Schläfrigkeit, und schließlich zum Schlaf. Auf dem Weg dorthin wird unsere Wahrnehmung verschwommen, das Gedächtnis übernimmt – hier jedoch in Form von Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit. Ich träume.
"Es springt ins Auge, dass die Veränderungen während eines Tages in bestimmter Hinsicht den Veränderungen entsprechen, die ein Kind durchmacht. Ein kleines Kind hat einen sehr konkreten Bezug zu seiner Umwelt. Allmählich lernt es sprechen, was eine abstrakte Form des Umgangs mit der Welt ist. Schließlich lernt es Zahlen, Rechnen, und logisches rationales Denken."

Maler, Judaist und Informatiker

David Gelernter selbst war ursprünglich Maler, bevor er Judaistik und Informatik an der Yale University studierte, wo er heute Computerwissenschaft lehrt. 1993 verlor er durch eine Briefbombe des technologiekritischen Unabombers eine Hand und ein Auge.
"Der Bombenanschlag hat meine Religiosität in keinster Weise beeinflusst. Ich war schon immer praktizierender Jude. Mein Großvater war Rabbiner, und ich bin aufgewachsen inmitten einer jüdischen Gemeinde und im Leben in der Synagoge. Ich glaube, die meisten Wissenschaftler können nicht mehr nachvollziehen, was der Kern von Religiosität ist: Ich bin Jude oder Christ, weil ich mich zu einer Gemeinschaft und deren Lebensweise hingezogen fühle. Religion gehört in die untere Hälfte des Bewusstseinsspektrums. Es ist keine Angelegenheit der Logik, sondern der Art, wie ich die Welt sehe."
Ein Bewusstsein des Spektrums kann nach Ansicht von David Gelernter auch dazu beitragen, dass wir begreifen, was sich im Laufe ganzer Generationen verändert hat. Frühere Gesellschaften, meint er, bedienten sich bevorzugt eines Denkansatzes, der tiefer im Spektrum angesiedelt ist. Bestes Beispiel seien die Klassiker der Weltliteratur.

In der Moderne wird die Rationalität bevorzugt

"Ein Blick auf die westliche Zivilisation zeigt, dass vor Jahrhunderten das Denken, wie es sich in der klassischen Literatur zeigt, viel konkreter war. Statt abstrakter Prinzipien, Theorien oder Lehren wurde eine Geschichte erzählt. Eine Geschichte über ganz bestimmte Menschen und deren individuelle Erlebnisse. So entsteht in meinem Kopf ein Bild. Und erst allmählich hat sich abstraktes, logisches und analytisches Denken eingebürgert. Das Gehirn hat sich in dieser kurzen Zeitspanne nicht verändert: Verändert hat sich die kulturelle Mode."
Das moderne Denken favorisiert den oberen Teil des Bewusstseinsspektrums, also die Rationalität. Hier halten wir die Emotionen an der kurzen Leine: Sie stören die Gedanken. Die meisten Wissenschaftler und Philosophen, kritisiert Gelernter, würden den unteren Teil des Spektrums völlig ignorieren, jenen Teil also, in dem Emotionen eine größere Rolle spielen. Kreativität entspringe genau in der Mitte, wo beide Prinzipien sich treffen und vermischen, betont David Gelernter. Kreativ sind wir, wenn der Geist sich von einer Phase hoher Konzentration entspannt, wenn er sich entfalten und auch assoziieren kann.
"Die Menschen sollten sich des Spektrums bewusst sein. Dann wären sie von der Wissenschaft weniger eingeschüchtert. Es ist wichtig, dass mehr Menschen über Wissenschaft und Technologie Bescheid wissen. Andernfalls überlassen wir den Wissenschaftlern und Technologen die Entscheidungen über diese Bereiche. Und das sollten sie nicht: Sie fällen oft schlechte Entscheidungen."

David Gelernter: Die Gezeiten des Geistes.
Vermessung unseres Bewusstseins.

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
Ullstein Verlag, Berlin 2016
392 Seiten, 22 Euro

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