David Albahari: "Das Tierreich"

Der Mensch ist der Abgrund

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Man kann den dichten Roman als Summe des Nachdenkens von David Albahari über Literatur lesen. © Artem Kovalev / unsplash.com / Schoeffling
Von Jörg Plath · 30.03.2017
Fünf Männer finden während ihres Militärdienstes bei der Jugoslawischen Volksarmee zueinander. Ihr Anführer gibt allen Tiernamen und nennt die Gruppe das Tierreich - klingt harmlos. Doch Albaharis Roman "Das Tierreich" erzählt aus einer düsteren Zeit.
Die ersten Sätze des Romans "Das Tierreich" von David Albahari sind an Klarheit kaum zu überbieten: "Seit gestern ist die Welt ein etwas besserer Ort. In ihr gibt es nämlich Dimitrije Donkić nicht mehr. Ich habe ihn getötet." Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht, denn der Leser hat bereits eine "Einleitung" hinter sich und die Abschnitte "Geschichte", "Epilog" sowie "Endnoten" vor sich. Der Mörder ist offenbar philosophisch bewandert und ästhetisch versiert.
Der Mord an Donkić hat eine Vorgeschichte: 40 Jahre zuvor ließ Donkić in der Jugoslawischen Volksarmee einen Soldaten ermorden und exekutierte danach die zwei von ihm angestifteten Henker. Der Erzähler sah zu – und wurde verschont. Warum, weiß er nicht. Alle fünf hatten in der Armee eine Gruppe gebildet, in der sie Tiernamen trugen. Das Tierreich sollt Sicherheit bieten, doch in ihm herrscht Lebensgefahr. Schon vor den Morden schürt Donkić - der Waschbär - Konflikte, bei denen der Erzähler, Tiger genannt, ebenfalls keinen Finger rührt.

Weder Täter noch Opfer

Er fürchtet im Waschbär einen Geheimdienstler, der die Anführer der 1968 von der Partei niedergeschlagenen Studentenproteste aufspüren soll. Der Tiger war damals am Rande beteiligt. Einen Axolotl nennt ihn das spätere Mordopfer, das einer der Köpfe von 1968 war. Diese Lurchart durchlebt nicht die ganze Metamorphose zum Erdtier, sie bleibt im Wasser. Dasselbe Zwischenwesen bezeichnet auch der einem Gedicht William Blakes entlehnte Tiger in "Flammenpracht": Der Erzähler ist weder Täter noch Opfer, sondern Zeuge. Er muss erzählen.
Alle Bücher David Albaharis, der 1994 nach Jahren als Vorsitzender der jüdischen Gemeinden in Serbien vor der "Zwangspolitisierung" in den jugoslawischen Kriegen nach Kanada auswanderte, sind Vexierspiele der Existenz. Sie lassen auf unspektakuläre Weise Lebensgeschichten wie Luftblasen platzen: was eben noch Halt gab, ist plötzlich Lüge. Der Mensch steht nicht vor einem Abgrund, er ist der Abgrund.

Die Wahrheit hat viele Gesichter

In der ersten Endnote des "Tierreichs", von Mirjana und Klaus Wittmann in ein elegantes Deutsch übertragen, heißt es, die "Geschichten leben nur dort, wo es mehr als einen Zeugen gibt, weil die Wahrheit immer mindestens zwei Gesichter haben muss. Hat sie nur eines, dann stimmt etwas nicht – mit der Geschichte oder mit der Wahrheit." "Das Tierreich" ist eine solche Geschichte: Das zweite Gesicht ist spurlos verschwunden. Vor seiner Ermordung in Kanada zweifelt der Erzähler 40 Jahre lang an allem – daher der aufwändige Aufbau des Buches. Die vielfachen Spiegelungen sind Versuche, die fehlende Perspektive zu ersetzen. Nach dem Schuss auf Donkić ist die ästhetische Anstrengung verlorene Liebesmüh: der Erzähler hat die Seiten gewechselt, er hat gehandelt. Das Manuskript landet im Papierkorb.
Man kann den dichten Roman als Summe des Nachdenkens von David Albahari über Literatur lesen. Wie er wandert sein Tiger-Erzähler nach Kanada aus. Eine moralische Lösung ist das nicht. Schuldig ist der Mörder, schuldig wird aber auch der Zeuge: Er lässt den Mörder gewähren und wird Komplize. Der Zeuge-Komplize kann nicht nur erzählen, er muss es tun – für sich. Die Literatur besitzt einen Geburtsmakel, der zugleich ihre Notwendigkeit begründet.

David Albahari: "Das Tierreich"
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann '
Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2017
155 Seiten, 20,00 Euro

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