Datenhoheit den Nutzern zurückgeben

Wie WWW-Erfinder Tim Berners-Lee das Internet retten will

06:38 Minuten
Tim Berners-Lee spricht beom Gottlieb Duttweiler Preis in Zürich in der Schweitz. Im Hintergrund blau-grüne Linien.
Tim Berners-Lee hat HTML erfunden und möchte nun das Internet zurückerobern. © picture alliance / dpa / Anthony Anex
Von Philip Banse · 06.10.2018
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Wie können wir selbst über unsere Daten bestimmen, statt sie großen Konzernen zu überlassen? Darüber hat der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, nachgedacht und nun eine Lösung präsentiert. Ist das die Geburtsstunde eines neuen, fairen Internets?
Wir alle haben uns daran gewöhnt, dass wir nicht wirklich Kontrolle über unsere Daten im Web haben: Fotos, die wir machen, Kommentare, die wir schreiben, unsere Kalendereinträge oder die Daten unseres Fitnesstrackers – alles landet irgendwo in der Cloud, auf den Rechnern irgendwelcher Firmen. Wir wissen nicht wirklich, was damit gemacht wird, wer drauf Zugriff hat und haben Sie schon mal versucht, Daten umzuziehen? Von einem Dienst zum nächsten? Eben...
Das hatte sich der Erfinder des World Wide Web alles etwas anders vorgestellt. Und deshalb hat Tim Berners-Lee nun eine Technik vorgestellt, die uns die Kontrolle über unsere Daten zurückgeben soll und als nichts Geringeres gehandelt wird als die "Neuerfindung des Web".

Worum geht es bei der angeblichen Neuerfindung des Web?

Tim Berners-Lee, der Erfinder der Hypertext Markup Language, kurz HTML, also der Sprache, aus der das World Wide Web gebaut wurde, hat zuletzt am MIT geforscht, dem Massachusetts Institute of Technology. Und er hat sich seit Jahren mit der Frage befasst, wie wir unsere Daten, die wir im Web und in Anwendungen hinterlassen, wieder unter Kontrolle bekommen, wie wir Apps und Konzernen gezielt Zugriff darauf gewähren oder auch verwehren können – kurz: Wie wir die Macht im Web wieder verschieben können, weg vom Betreiber des Servers, zurück zum Nutzer. Denn heute liegen unsere Daten auf den Servern von Facebook, Google und Amazon.
Berners-Lee will, dass die Daten bei uns, unter unserer Kontrolle sind. Und so hat er mit anderen vor allem im letzten Jahre "Solid" entwickelt, eine Open-Source-Software, mit der das Web ganz neu organisiert werden kann. Kern-Element sind persönliche Daten-Lager, sogenannte PODs, die sich jeder schon jetzt gratis anlegen kann. Statt auf den Servern von Amazon und YouTube werden unsere Daten in diesen PODs gespeichert: mein Name, meine Adresse, aber auch alle unsere Fotos, Videos, Fitnessdaten, Gesundheitsdaten, Adressbücher, Bestellhistorien, ja selbst Kommentare, die wir auf irgendwelchen Webseiten hinterlassen – alles landet nicht mehr bei Konzernen wie Google oder Facebook, sondern in meinem privaten Pod.

Jedes Like im Netz bekommt eine eigene URL

Was kann Solid, was andere Cloud-Speicher nicht können? Zum einen hat jeder Datenschnipsel in meinem Pod, jedes Bild, jeder Kommentar, jedes Like eine genau URL, eine eindeutige Adresse im Web. Zweitens kann ich sehr genau festlegen, welche App was aus meinem Pod lesen darf, beziehungsweise etwas reinschreiben darf. Und so können mit Solid-Software etwa YouTube-artige Video-Apps gebaut werden, die sich Ihr Video aus Ihrem Pod holen und wissen, dass mein Kommentar zu dem Video in meinem Pod liegt. Und die App zeigt dann Ihr Video mit meinem Kommentar an. Und so sind viele Apps denkbar, die sich – so sie denn dürfen – Daten aus allen möglichen Pods zusammensuchen, zusammenfügen und anzeigen. Die Knoten des neuen Webs sind also unsere Pods, nicht mehr die Server irgendwelcher Konzerne.
Wie sieht das momentan in der Praxis aus? Ich habe mir mal einen Pod erstellt. Man kann die Software dafür selber auf seinem eigenen Server oder Rechner installieren oder sich bei einem Solid-Provider im Netz einen Pod klicken – was mit Abstand der einfachste Weg ist, an einen Pod zu kommen. Ich habe mir einen Pod geklickt bei "inrupt", das ist eine Firma, die Tim Berners-Lee gegründet hat, um seine Solid-Technik voranzubringen. Der Pod ist schnell erstellt, einfach Nutzernamen und Passwort auswählen und los. Jetzt habe ich einen zentralen Lagerraum für meine Daten.

Noch ist Software roh und unfertig

In der Praxis ist das noch nahezu unbrauchbar. Die Bedienung ist noch extrem hakelig und unübersichtlich und wirkt eher wie eine Zeitreise zu den Anfängen des Webs als in dessen Zukunft. Die Navigation innerhalb des Pods ist maximal unübersichtlich, das Anlegen neuer Adressbücher und Einträge extrem verwirrend.
In einem Blogpost haben die Macher von Solid eingeräumt, dass die Software noch sehr unfertig und roh ist. Ihnen geht es aber vor allem jetzt darum, Entwickler für das Projekt zu begeistern. Denn das Ganze hat nur eine Zukunft, wenn jetzt viele Solid-Anwendungen entstehen, die Pods nutzen und uns alle überzeugen. Tim Berners-Lee etwa hat sich eine Solid-App gebaut, die alle seine Daten übersichtlich anzeigt: seinen Kalender, seine Musik, seine Videos, den Chat, seine Forschung. Eine Reporterin, der er das gezeigt hat, sagte, die App sei eine Mischung Google Drive, Microsoft Outlook, Slack, Spotify und WhatsApp – nur, dass alle diese Daten in Berners-Lees Pod liegen, unter seiner Kontrolle.
Ist das nun die Neuerfindung des Webs? Es gibt ein paar Sachen, die dafür sprechen: Die Idee ist gut. Kommerzielle Interessen und das Desinteresse der Nutzer haben dazu geführt, dass es als gottgegeben angesehen wird, dass unsere Daten über das ganze Web verstreut auf Servern kommerzieller Anbieter liegen müssen, damit etwas funktioniert. Berners-Lee sagt und zeigt: Das ist Unsinn. Wir wollen und können ein Web bauen, in dem wir Nutzer und Nutzerinnen die Macht haben.

Die Technik, auf der es fußt, existiert bereits

Tim Berners-Lee hat den Namen, das Wissen, die Reichweite, um sowas loszutreten. Er hat darüber seit vielen Jahren nachgedacht und wenn einer weiß, wie Web geht, dann er.
Die komplette Technik, auf der Solid fußt, existiert. Die bestehenden Einzelteile des bestehenden Webs müssen nur neu zusammengebunden und kombiniert werden. Das erleichtert die Verbreitung sehr. Die Zeit ist reif und vielen wird die Macht der globalen Netzgiganten unheimlich.
Werden große Internetkonzerne ihre Macht abgeben? Sicher nicht. Amazon, Google, Facebook, Apple werden nicht einfach Solid einbauen und sagen: Alle Deine Daten liegen jetzt nicht mehr bei uns, sondern in Deinem Pod mit dem Du jeder Zeit den Anbieter wechseln kannst, zu dem Du uns jeder Zeit den Zugang verwehren kannst. Berners-Lee ist das bewusst, aber er sagt: Wir fragen Facebook nicht um Erlaubnis, wir machen einfach.
Dennoch wird es schwer werden, kritische Massen zu erreichen, um die Architektur des Webs wirklich zu ändern. Daher wäre es sinnvoll, wenn staatliche Stellen in diese Solid-Technik investieren würden und staatlich finanzierte Software Solid nutzen würde. So kommt Geld ins System und der Druck zum Umstieg steigt.
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