"Das Wesentliche war, dass die DDR eigentlich geistig ausblutete"

Moderation: Jürgen König · 16.11.2006
Nach Ansicht des Schriftstellers Günter Kunert hat die Ausbürgerung von Wolf Biermann vor 30 Jahren im öffentlichen Leben der DDR praktisch keine Rolle gespielt. Dies habe sich nur in einem "bestimmten, aber entscheidenden Kreis von Menschen" ausgewirkt, sagte Kunert: "Die Leute hatten mit ihren eigenen Problemen zu tun und Schwierigkeiten."
Jürgen König: Vor dreißig Jahren bürgerte die Regierung der DDR Wolf Biermann aus. Die Proteste dagegen waren groß. Historiker sagen heute, dass mit diesem Ereignis die allmähliche Erosion des Staates begann, denn die Ausbürgerung zerstörte bei vielen Bürgern der DDR die Hoffnung, das System sei zu reformieren, eine Hoffnung die doch gerade Anfang, Mitte der 70er Jahre, also zu Beginn der Ära Honecker, aufgekommen war. Mehr als 100 Schriftsteller und Künstler aus der DDR protestierten damals gegen die Ausbürgerung Biermanns. Viele von ihnen verließen bald darauf die DDR, Sarah Kirsch zum Beispiel, Jurek Becker, Manfred Krug oder auch Günter Kunert, der Schriftsteller Günter Kunert. Guten Morgen!

Günter Kunert: Ja, guten Morgen.

König: Sie waren gestern Abend beim Bundespräsidenten geladen, der gab ein Essen für Wolf Biermann, zeichnete ihn, wie es hieß, in Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen besonderen Verdienste mit dem Bundesverdienstkreuz aus. Wie war es gestern Abend?

Kunert: Ach, das war ganz amüsant. Biermann hatte vorsichtshalber keinen Schlips umgebunden, damit er das Kreuz am Bande auch gut tragen konnte. (lacht)

König: Wieso, hätte der Schlips dieses Tragen unmöglich gemacht?

Kunert: Ich glaube schon, ja. Das war der Schlipsersatz. Aber wissen Sie, der Herr Köhler ist ja eine schätzenswerte Person. Hat eine vorzügliche wie ich finde, vorzügliche Rede gehalten, und natürlich Biermann hat ihn kaum übertrumpfen können.

König: Was hat der Bundespräsident gesagt?

Kunert: Der Bundespräsident ist eingegangen natürlich auf die Biografie Biermanns, und hat ihn dann zum Schluss auch zitiert, also offenkundig, er kannte das Werk von Biermann und auch die frühen Lieder und Gedichte. Und das war von einer großen Sympathie getragen, was Herr Köhler gesagt hat. Und dieser ganze Abend war wie eine Zusammenkunft von Freunden, muss man sagen. Und ich glaube, dass Biermann auch sehr glücklich war, dass seine geliebten Feinde abwesend waren.

König: Hat er noch eine Dankesrede gehalten?

Kunert: Alle, wir alle haben immer wieder zwischendurch mal was zu ihm und über ihn gesagt. Der und jener hat sich gemeldet, hat gesprochen, und natürlich hat Biermann dann auch immer geantwortet. Und so zog sich dass ja hin bis fast Mitternacht.

König: Wo fand das statt, im Schloss Bellevue?

Kunert: Im Schloss Bellevue, ja.

König: Das ist auch eine schöne Vorstellung: Vierzig Freunde sitzen zusammen, um Wolf Biermann zu ehren. Das stelle ich mir sehr anrührend vor.

Kunert: Es war auch anrührend. Es war sehr berührend, und es war auch heiter, muss man sagen.

König: Kann Horst Köhler heiter sein?

Kunert: Aber natürlich. Kann er.

König: Er wirkt immer, ich meine das muss er ja auch, immer sehr staatstragend, wenn man ihn so sieht.

Kunert: Der hat sich zum Teil wirklich köstlich amüsiert. Sie wissen ja, Biermann kann sehr gut Späße machen, ist ja ein witziger Mensch, und das hat natürlich auf Köhler seine Wirkung.

König: Haben Sie noch ein Beispiel im Kopf?

Kunert: Nein, leider nicht. Aber es war so eine entspannte Atmosphäre, und ich glaube, das hat Köhler auch genossen.

König: Wie war das damals, heute vor 30 Jahren, als plötzlich die Nachricht kam, Wolf Biermann wird aus West-Deutschland nicht zurückkehren. Wie haben Sie das empfunden: die große Leere?

Kunert: Wird nicht zurückkehren stimmte ja nicht, sondern die Nachricht war ja, die DDR hat Wolf Biermann die Staatsbürgerschaft entzogen. Das war es ja. Und es rief mich am nächsten Morgen Stephan Hermlin an und sagte nur, komm doch bitte um elf Uhr zu mir, und er hat alle angerufen, denen er vertraute und die kritische Geister waren. Und so trafen wir uns alle um elf Uhr bei Hermlin. Und ich muss sagen, dass ist wirklich eine enorme Leistung von Hermlin gewesen, einem anderen wäre es unmöglich gewesen. Wenn Heym uns angerufen hätte - zu Heym wären vielleicht drei Leute gekommen.

König: Stefan Heym.

Kunert: Ja, aber so zu Hermlin ging man selbstverständlich. Und dann saßen wir da, und Hermlin und Heym haben diese so genannte Petition, die von der Regierung als Protest empfunden wurde - es war ja nur eine Petition - entworfen. Und gingen dann zusammen in die Küche und sprachen das dann noch einmal ab. Und ich muss auch sagen, wir saßen alle etwas zittrig da, und Christa Wolf sagte dann, jetzt kommen wir alle in den Knast. Wenn sich nicht so viele Künstler und Intellektuelle angeschlossen hätten, wäre das möglicherweise wirklich passiert.

König: Welche Rolle spielte diese Petition dann weiter im öffentlichen Leben der DDR?

Kunert: Wissen Sie, im Grunde betraf die ganze Biermann-Affäre ja Künstler, Intellektuelle, kulturell Interessierte, so der Durchschnitt in Kleinklotzsche oder … wusste ja gar nichts von Biermann. Hat also die Auswirkung nur in einem bestimmten aber entscheidenden Kreis von Menschen dann gehabt.

König: Aber wenn dann viele, auch Film- und Fernseherkünstler im Anschluss weggehen, das merkt man doch dann auch in Kleinklotzsche wie sie sagten.

Kunert: Das hat man in Kleinklotzsche auch gemerkt, aber wissen Sie, die Leute in Kleinklotzsche waren an so vieles gewöhnt. Das haben die dann auch nur noch achselzuckend hingenommen. Aber das Wesentliche war eben, dass die DDR eigentlich geistig ausblutete.

König: Ja, ich stelle mir das wie ein Vakuum vor, dass da plötzlich etwas nicht mehr ist und gerade dadurch wirkmächtig wird.

Kunert: Und vor allen Dingen muss man sehen, das Leseland DDR war ja merkwürdiger… - oder gar nicht merkwürdigerweise auf Literatur fixiert, sehr viele, nicht nur Intellektuelle, Künstler, et cetera, sondern auch andere Schichten. Weil die Literatur bot sozusagen das Kontrastprogramm zu der völlig ideologisierten und unerträglichen Sprache aller Medien.

Darum lasen die Leute die Bücher und kauften Bückware. Ich war auch Bückware, hatte keine großen Auflagen und die Leute kauften dann meine Bücher, um etwas zu haben, was alleine schon sprachlich im Kontrast stand zum offiziellen Gerede, und für diese Leute, die dann Leser waren, war das natürlich auch trostlos.

König: Für die Intellektuellen, die Sie beschrieben haben, war doch dieser Fall Biermann auch etwas, wo man sich dann bekennen musste, auf welcher Seite man steht.

Kunert: Das war schon vorher so. Also das war nicht erst Biermann. Es gab immer die Gruppe der treuen und braven Brüder, die wenn sie es nicht ausgesprochen haben, aber sie wussten es: Nur wenn wir schreiben, was gewünscht wird, dann werden wir auch die Vorteile haben. Und diese Leute standen schon immer außerhalb der kritischen Geister. Da war immer schon eine Trennung vorhanden. Nur diese Trennung wurde dann unerhört offenkundig durch die Biermann-Geschichte.

König: Habe ich Sie richtig verstanden, dass die Ausbürgerung Biermanns im öffentlichen Leben der DDR praktisch konkret keine große Rolle spielte?

Kunert: Nein.

König: Das kann ich mir nämlich nicht so richtig vorstellen.

Kunert: Nein, die Leute hatten so mit ihren eigenen Problemen zu tun und Schwierigkeiten und mussten anstehen um irgendwo einen Zentner Zement zu bekommen oder fünf Nägel. Für die war das eigentlich eine Erscheinung, an die sie gewohnt waren. Sie haben ja x-mal gelesen, wieder ein Klassenfeind entlarvt. Also es spielte für die Mehrheit der Menschen, immerhin 16 Millionen, für 10 Millionen sagen wir mal, spielte das überhaupt keine Rolle.

König: Herr Kunert, Sie leben heute in Itzehoe, in Hamburg, treffen Sie sich manchmal.

Kunert: Bei Itzehoe.

König: Bei Itzehoe, Entschuldigung.

Kunert: Auf dem flachen Lande.

König: Treffen Sie sich manchmal?

Kunert: Wir telefonieren ab und zu und sehen uns ganz sporadisch.

König: Was sprechen Sie, wenn Sie auf damals zu sprechen kommen?

Kunert: Überhaupt nicht, nein wir reden nur über aktuelle Dinge.

König: Zum Beispiel?

Kunert: Na ja, Intimes.

König: Intimes? Das wollen wir jetzt nicht erfragen.

Kunert: Nein, das würde ich auch nicht sagen wollen. Wir sprechen über unser Leben und über unser Zusammenleben mit anderen Menschen, aber die Situation von damals wird überhaupt nicht thematisiert. Das ist vorbei, das ist gewesen.

König: Finden Sie, dass wir in den Medien jetzt zu viel Wolf Biermann, 30 Jahre Ausbürgerung, machen?

Kunert: Nein, das finde ich nicht, weil wissen Sie, Biermann ist ja ein ganz besonderes Talent, wie man es in Deutschland ganz selten mal hat. Also ich sag jetzt mal Heine zum Beispiel. Und so ein Mann, mit diesem Einfallsreichtum in Gedichten und Liedern, und auch mit dieser Energie, wie er das vor seinem Publikum getragen hat und trägt, das ist in Deutschland ein Sonderfall. Und ich finde, man sollte als Deutscher froh sein, dass es immer noch solche bedeutenden Autoren wie ihn gibt.
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