"Das war wirklich eine große Geschichte"

Heinz Bude im Gespräch mit Jürgen König · 31.03.2010
Der Soziologe Heinz Bude hat davor gewarnt, die Rolle des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl beim deutschen und europäischen Einigungsprozess zu unterschätzen. "Kohl hatte einen absoluten Riecher in der Situation", sagte Bude anlässlich des bevorstehenden 80. Geburtstages des CDU-Politikers.
Jürgen König: In der Geschichte der Bundesrepublik hat es zwei Phasen langer Kanzlerschaft gegeben: die Ära Konrad Adenauer von 1949 bis 63 sowie die Ära Helmut Kohl, der Bundeskanzler war von 1982 bis 1998.

Die Adenauer-Ära hat in der historischen Erinnerung klare Konturen: Wirtschaftswunder, Restauration, ein gewisses Biedermeier mit eisigem Beschweigen der NS-Zeit. Was aber macht die Ära Kohl aus, was hat sie oder wie hat sie die Kinder der Generation geprägt, will ich den Soziologen Heinz Bude fragen, der sich mit dem Werdegang der deutschen Nachkriegsgenerationen intensiv beschäftigt hat. Herr Bude, ich grüße Sie!

Heinz Bude: Grüß Sie, Herr König!

König: Wenn Sie an die Ära Kohl denken, was fällt Ihnen als Erstes ein?

Bude: Ich glaube, als Erstes fällt mir Vollendung der Westbindung ein. Helmut Kohl ist sicherlich jemand, der von Anfang an immer versucht hat, allem Deutschtümelnden entgegenzutreten, und er ist gewiss jemand, der der Meinung war, dass das Zentrum Deutschlands eher in den Westen als in den Osten gehört, jedenfalls nicht in irgendeine unklare Position zwischen Westen und Osten.

Und insofern ist er durchaus vergleichbar mit Leuten wie sagen wir Peter Boenisch, der die "Bravo" erfunden hat, der einer seiner Regierungssprecher war. Die "Bravo" war damals übrigens eine ganz schöne Geschichte. Das war so der Versuch, gegen den heroischen deutschen Mann die Lässigkeit des amerikanischen Modells in der Bundesrepublik.

König: Der lange auch bei der "Bild"-Zeitung war?

Bude: Der auch lange Chefredakteur der "Bild"-Zeitung war, ganz genau. Das ist, wenn Sie so wollen, die konservative Seite dieser Generation. Und es gibt natürlich die linksliberale Seite aus derselben Generation, da ist sicherlich das bekannteste Beispiel Jürgen Habermas, aber auch Hans Magnus Enzensberger.

Und in Kohl haben die am Ende, jedenfalls am Ende seiner Ära, sich als Generation konsolidiert, also ein Mann, von dem klar war, dass er die Aussöhnung mit Polen vollenden würde, der aber nie einen Zweifel daran lassen würde, dass die europäische Frage in Europa aufgehen würde, und er würde nie die Idee haben, dass in irgendeiner Weise wieder am deutschen Wesen die Welt genesen sollte.

König: Als Kohl antrat 1982, gab es dieses berühmte Versprechen einer geistig-moralischen Wende, weg vom Erbe der 68er, weg von den politischen Ideen der sozialliberalen Koalition. Es kam dann anders, die Ostpolitik wurde fortgesetzt, und diese gesellschaftliche Liberalisierung erreichte Ausmaße, die sich die 68er nicht hätten träumen lassen. Wie war ein solch widersprüchlicher Weg möglich?

Bude: Man darf nicht unterschätzen, dass Helmut Kohl zu den Modernisierern der CDU gehört. Er hat versucht, die CDU zu einer Partei der Mitte zu machen, und er hat – durch Rat von seinem späteren Fastgegner Heiner Geißler – versucht, das, was man teilweise eine Fundamentalliberalisierung genannt hat, auch innerhalb der CDU durchzusetzen.

Rita Süssmuth ist dafür das Beispiel, die dann unter seiner Ägide Bundestagspräsidentin wurde. Das darf man nicht unterschätzen. Kohl hatte auch immer einen Blick für die Frauen, er hatte auch bei aller Differenz zu 68 ein gelassenes Verhältnis zu den 68ern, das glaubt man eigentlich gar nicht, weil er selber innerhalb einer honorationmäßig organisierten Volkspartei im Grunde das politische Geschäft eingeführt hat als einer pragmatischen Organisierung von politischer Macht.

Das ist, glaube ich, etwas – Kurt Biedenkopf, jemand auch, der ihm zur Seite stand lange Zeit – Biedenkopf ist jemand, der in den USA sozialisiert ist, geistig beispielsweise wie Horst Ehmke auch, gehört auch zu dieser Generation von der SPD. Kohl ist keiner, der von Amerika her dem Westen zugeneigt war, sondern eher von Frankreich.

Das ist ein interessanter Punkt, er ist wirklich von seinem ganzen inneren Format ein Europäer und hat gedacht, wir müssen versuchen, die CDU zu einer Partei ja der Mitte zu machen, natürlich der konservativen Mitte, aber nun ja nicht dramatisch sich gegenüber einer der linksliberalen Parteien in Deutschland zu wenden, sondern sie versuchen einzubinden.

König: Wenn wir an die 80er-Jahre denken, Herr Bude, dann fällt einem die Friedensbewegung ein, die Antiatomkraftbewegung, die Hausbesetzerszene, die Demonstrationen gegen den Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen. Diese Kohl-Generation wirkt bei all diesen Themen, bei all diesen Protesten irgendwie aus heutiger Sicht befriedeter als die 68er – weniger politisch, weniger rebellisch.

Sie haben Kohl, wenn ich so sagen darf, mit Inbrunst verspottet, kamen aber ja trotzdem mit den Verhältnissen dieser Zeit irgendwie sehr gut klar. Ist das nicht auch ein großer Widerspruch?

Bude: Na ja, wenn Sie mit der Generation Kohl meinen, dass diejenigen, die mit Helmut Kohl politisch sozialisiert worden sind, die quasi sich gar keinen anderen Bundeskanzler mehr ...
König: Ja, genau.

Bude: ... denken konnten, dann, glaube ich, stimmt das absolut. Weil Helmut Kohl hat ein interessantes Zeichen in der politischen Kultur der Bundesrepublik gesetzt. Bei Helmut Schmidt dachte man noch, oh Gott, Grenzen des Wachstums, autofreie Sonntage, quasi das Hansjörg-Felmy-Bild der Bundesrepublik. Das war so ein Mensch, der "Tatort"-Kommissar war, der immer so was von Verbissenes hatte, und man dachte, oh Gott, man weiß nicht ganz genau, nimmt das nicht alles ein schlechtes Ende.

Und dann kommt Helmut Kohl und sagt: Ach, es geht doch alles weiter. Und es ging plötzlich alles weiter, und es kam in den 80er-Jahren – vergisst man heute auch – plötzlich eine ziemlich gute Stimmung auf gegenüber diesen etwas ...

König: Deutschland war eine bunte Republik.

Bude: Es war eine bunte Republik, und dafür steht Helmut Kohl, für dieses "Ach, es geht doch weiter". Und dieses "Ach, es geht doch weiter" hat zu einer gewissen Art von, ja, auch von einer Art von Lässigkeit in der Bundesrepublik beigetragen, die nicht zu vorschnellen Dramatisierungen neigen wollte. Das ist auf der anderen Seite von vielen Leuten auch als das Unpolitische dieser Ära angesehen worden, weil eigentlich in der Ära Kohl die ersten Versuche gemacht wurden, sich doch in einer absolut postideologischen Welt einzurichten.

König: Gegen Ende der 80er-Jahre hatte man schon den Eindruck, die Ära Kohl könne zu Ende gehen, dann kam überraschend der Fall der Mauer, die von Kohl mit Verve vorangetriebene Wiedervereinigung. Die Kanzlerschaft wurde bis 1998 verlängert, und ich glaube, die Koordinaten dieser Kanzlerschaft veränderten sich völlig, und dennoch blieb es seine Kanzlerschaft. Wie hat die Kohl'sche Art, Politik zu machen, dann die deutsche Nachwendegesellschaft geprägt?

Bude: Ich glaube – das ist nun auch vielfach beschrieben –, Kohl hatte einen absoluten Riecher in der Situation. Das berühmte Zehn-Punkte-Programm von ihm war wirklich eine große Leistung, das wird man im Nachhinein sagen müssen, nämlich zu fokussieren die Kräfte in der Bundesrepublik und den europäischen Nachbarn die Botschaft zu geben, die deutsche Einheit wird sich in der europäischen Einigung vollenden.

Das war wirklich eine große Geschichte, die er da vollbracht hat, insbesondere im Blick auf Maggie Thatcher, die große Skepsis hatte gegenüber dieser ganzen Geschichte, auch in Bezug auf François Mitterrand – das hat er hinbekommen. Natürlich, von heute aus gesehen, um den Preis, was man dann auch vielfach gesagt hat, dass im Grunde die Bundesrepublik immer für Europa in Haftung genommen wurde – das haben wir gerade durchexerziert im Blick auf Griechenland, dass es da jetzt auch erste Absetzungsbewegungen durch die Bundesrepublik von gibt.

Aber das ist etwas, was im Grunde die deutsche Gesellschaft auch wieder außerordentlich befriedet hat, weil sie einen Kanzler hatte, der im Grunde sagte, ihr braucht euch – hat er Nachbarn gesagt, aber auch den Bürgern der Bundesrepublik gesagt –, wir sind keine Nation mehr in irgendeinem dramatisierbaren Sinne, sondern wir sind eine postnationale Nation. Dies ist, glaube ich, auch etwas, was man wirklich nicht unterschätzen darf, immer auch in dieser Vorstellung, dass dieses Machtgefüge der Bundesrepublik, das, was man Korporatismus nennt, das hat er immer außerordentlich im Blick gehabt.

Also Helmut Kohl war jemand, der wusste, wenn ich – darüber müsste man auch etwas sagen, er ist ein Katholik gewesen und ist ein Katholik –, und er hat immer im Blick gehabt, wenn er als Bundeskanzler katholisch ist, dann muss der Bundespräsident ein Protestant sein. Also nur als ein Beispiel, um dieses Feingefüge der Bundesrepublik im Blick zu haben. Auch gegenüber Gewerkschaften. Natürlich war Kohl immer und ist immer der Meinung, man muss auf die Gewerkschaften zugehen. Er ist zuletzt sogar damit vernommen worden, dass er sagt, es kann nicht im Interesse der CDU sein, dass die SPD zu schwach wird.

König: Die Adenauer-Ära hat lange nachgewirkt, wirkte lähmend, manchmal traumatisierend hatte man den Eindruck. Die Kohl-Ära, wie hat sie nachgewirkt? Merkt man die gesellschaftlichen Folgen seines Wirkens noch heute an?

Bude: Ich glaube schon, weil diejenigen, die heute die Geschicke der Bundesrepublik bestimmen, also die Anfang bis Mitte 40-Jährigen, alle aus dieser Generation Kohl, aus dieser Zeit, aus dieser Periode kommen. Sie können das beispielsweise an großen deutschen Wochenzeitungen sehen.

Nehmen Sie mal beispielsweise die "Zeit", aber auch der "Spiegel", ist im Grunde in der Hand dieser 40- bis 45-Jährigen. Giovanni di Lorenzo zum Beispiel, Chefredakteur der "Zeit", ist jemand, der aus dieser Generation kommt. Oder nehmen Sie Florian Illies mit seinem Renner über die "Generation Golf", auch etwas aus dieser Generation. Das heißt, das ist eine Generation, die durch und durch postideologisch ist und jetzt eigentlich dabei ist zu verstehen, was es eigentlich heißt, die Bundesrepublik nach innen und nach außen zu vertreten.

Die sind merkwürdigerweise immer noch in einer Art Lernprozess begriffen. Das ist jetzt sehr interessant, weil neue Konstellationen auf die Bundesrepublik zugekommen sind, die mit den Mitteln der Kohl-Ära nicht mehr zu bewältigen sind.

Natürlich die riesige Wirtschafts- und Finanzkrise, aber ganz aktuell die Problematik der Europäischen Union mit Griechenland, aber natürlich auch die Frage des Afghanistankonfliktes, also die Kriegseinsätze der Bundeswehr. Also alles dies, wenn Sie nur mal diese drei Dinge nehmen, sind neue Problemlagen, die auch nicht mit der Logik der deutschen Einigung mehr zu meistern sind.

Das ist einerseits der Vorteil dieser Generation, dass sie an die Dinge unideologisch, pragmatisch herangehen kann. Ihr Problem ist, dass sie dabei sind, ihr Koordinatensystem umzustellen, und wissen, dass das mit den Mitteln des Kohl'schen Pragmatismus eigentlich alleine nicht mehr zu machen ist.

König: Die Ära Kohl hat unsere Gesellschaft befriedet. Ein Rückblick auf 16 Jahre Kanzlerschaft Helmut Kohls im Gespräch mit dem Soziologen Heinz Bude. Herr Bude, ich danke Ihnen!

Bude: Ich danke Ihnen, Herr König!