Das Surreale im Alltag ablichten

Von Carmela Thiele · 31.08.2013
Wäre es nach Helen Levitt gegangen, hätten nur ihre Freunde von Ihrem Werk gewusst. Doch es kam anders: Sie wurde Teil der Straßenfotografie-Bewegung, die Ende der 30er-Jahre das Bild von der Wolkenkratzer-Stadt New York verändern sollte.
Drei Jungen beim Spiel auf einer unebenen Brachfläche, Spanish Harlem/New York, aufgenommen in den dreißiger Jahren, von Helen Levitt. Die sich gegenseitig jagenden Kinder bewegen sich wie Tänzer eines modernen Balletts. Im Hintergrund Graffiti an einer Backsteinwand, ein Zaun, dann die Straße.

"Das war eine gute Umgebung, um Bilder zu machen, weil es noch kein Fernsehen gab. Es ist eine Menge passiert. Die älteren Leute saßen wegen der Hitze draußen auf den Stufen. Da gab es noch keine Klimaanlagen in den späten dreißiger Jahren, das sollte man nicht vergessen."

Helen Levitt kommentierte ungern ihre Arbeit und gab erst in hohem Alter Interviews. Lieber als in Ausstellungen betrachtete sie ihre Aufnahmen in Fotobüchern. Titel oder Datierungen sucht man darin vergebens. Die Bilder sollen ganz für sich allein wirken.

"Wenn es einfach wäre, darüber zu reden, wäre ich Schriftstellerin geworden. Ich drücke mich mit Bildern aus."

Helen Levitt wurde am 31. August 1913 in Bensonhurst/Brooklyn als das zweite Kind des russischen Einwanderers Sam Levitt geboren. Helen schmiss kurz vor Ende der High-School die Schule und fand durch Vermittlung ihrer Mutter, die Buchhalterin war, Arbeit bei einem Porträtfotografen. Dort erlernte sie das Handwerk der Fotografie. Inspiration suchte die junge Frau, die sich eigentlich für Kunst interessierte, in Museen, aber auch bei Veranstaltungen der gesellschaftskritischen Photo-League. 1936 erwarb sie - second hand - eine der ersten Kleinbildkameras, eine Leica.

"Ich hatte mich entschieden, Bilder von Leuten aus der Arbeiterklasse zu machen und damit beizutragen zur Bewegung, ob sie nun anarchistisch oder kommunistisch war. Und dann kam der Zeitpunkt, als ich die Fotografien von Cartier-Bresson sah, und mir bewusst geworden ist, dass Fotografie Kunst sein kann. So etwas wollte ich versuchen, anstatt Bilder zu machen, die einem Zweck dienten. Ich suchte nach einem Zugang, um Bilder zu machen, die für sich selbst stehen."

Sie begleitete Cartier-Bresson, der damals in New York lebte, auf einigen seiner Streifzüge. Bald drückte sie selbst im "entscheidenden Moment" auf den Auslöser. Kennzeichnend für Levitts Bilder ist ihr Interesse an Momenten, in der sich das Surreale im Alltag zeigt. In ihren Bildern wird die Straße zur Bühne: Kinder schauen Seifenblasen nach, eine Frau drängt sich mit zwei Kindern in eine Telefonzelle. Inka Schube, Kuratorin der letzten großen Ausstellung Helen Levitts:

"Was an Helen Levitts Bildern so außerordentlich besonders ist, und ich glaube, da ist sie… weiter gegangen als ihre Generationsgefährten, ist die Tatsache, dass sie die Stadt auch als Raum begreift, also als Raum, in dem diese Menschen agieren. Sie verspannt diese Leute regelrecht in dem Raum und zeigt sie beim Springen, Sitzen, sich bewegen, mit einer ungeheuren Agilität in ihren Räumen, die sie praktisch richtig besetzen."

Helen Levitt gehörte seit Mitte der dreißiger Jahre zu der New Yorker Bohème der Foto- und Film-Szene, die sich im Zuge der Depression der Kehrseite des amerikanischen Traums zuwandte. 1941/42 ließ sie sich als Cutterin ausbilden und arbeitete zum Broterwerb in der Film-Branche. Zeitgleich hatte sie als Fotografin Erfolg, die neugegründete Foto-Abteilung des Museum of Modern Art widmete ihr eine Einzelausstellung. Mit dem Filmkritiker James Agee und der Malerin Janice Loeb arbeitete sie an zwei eigenen Filmen. Seit 1959 konzentrierte sich Helen Levitt sich wieder auf die Fotografie. Ihre Farbfotografien sind eine Hommage an das New York der Individualisten.

Das europäische Publikum entdeckte die alte Dame der "street photography" erst, als Cathérine David 1997 Helen Levitts Werk auf der Documenta zeigte. 2008, ein Jahr vor ihrem Tod, erhielt Levitt den Internationalen Preis für Fotografie der Stiftung Niedersachsen. Was die damit verbundene Ausstellung im Sprengel-Museum Hannover betraf, ließ die fünfundneunzig Jahre alte Künstlerin der Kuratorin Inka Schube freie Hand. Die Auswahl der Bilder für das Künstlerbuch jedoch bestimmte sie selbst. Und: wie immer bei Helen Levitt erschien der Band ohne Text.