Das Spiel der Frösche mit dem Drachen

Von Harald Brandt · 20.10.2012
Das erste Instrument zur Erdbebenmessung wurde im Jahr 132 von dem chinesischen Wissenschaftler Zhang Heng entwickelt. Durch die Erschütterung öffnete sich das Maul eines Drachen und eine kleine Bronzekugel fiel in den Mund eines Frosches. Die Wissenschaftler vom Kandilli Observatorium in Istanbul benutzen moderne Seismographen, um den westlichen Ausläufer der Nordanatolischen Verwerfung zu kontrollieren.
20 Kilometer südlich von Istanbul im Marmarameer haben sie das potenzielle Epizentrum des "Big One", des Großen Erdbebens lokalisiert, das große Teile der Metropole am Bosporus zerstören könnte. Morgen schon oder erst in 30 Jahren. Dass sich die Spannungen zwischen der eurasischen und der anatolischen Platte eines Tages in Form eines starken Bebens lösen, ist unvermeidlich.

Die türkische Journalistin Mine Kirikkanat, die japanische Autorin Yoko Tawada und die haitianische Schriftstellerin Yannik Lahensbeschreiben in ihren Büchern die psychologische Dimension der Naturkatastrophe Erdbeben. Und sie weisen darauf hin, dass nach Naturereignissen, die innerhalb von Sekunden die Infrastruktur einer ganzen Region zerstören, die Karten im geopolitischen Kräftespiel neu gemischt werden.

Haiti-Impressionen nach dem Horror-Beben
Yanick Lahens: "Und plötzlich tut sich der Boden auf", Rotpunktverlag

FAZ-Kritik: Haitis Stunde null

Links :

GFZ – Helmholtz Centre Potsdam
Erdbebenliste

Erdbebenrisiko und Risikoentwicklung in der Megacity Istanbul

Erdbebenstation Bensberg - und eine kleine Erdbebenkunde

Latest Earthquakes M5.0 in the World - Past 7 days

USGS Geologic Hazards Science Center

Istanbul Technical University

ITÜ/Jeofizik

KANDILLI OBSERVATORY AND EARTHQUAKE RESEARCH INSTITUTE (KOERI)

IRIS Earthquake Channel

Marum Zentrum für Marine Umweltwissenschaften

Seismic eArly warning For EuRope

Marmara DMis a demonstration mission funded by ESONET European Network of Excellence and coordinated by Louis Geli at Ifremer (France). Partners are Istanbul Teknik Universitesi (Turkyie), ISMAR (Bologna, Italia), INGV (Roma, Italia), CNRS/CEREGE (France), Dokuz Eylul Universitesi (Izmir, Turkyie)

ITU School of Mines

MarNaut du Nautile en mer de Marmara

Earth and Marine Sciences Institute (EMSI)

Auszug aus dem Manuskript:

Japan

Am 11. März 2011 gab es vor der japanischen Ostküste ein schweres Seebeben der Stärke 9. Die Erdstöße in 24 Kilometer Tiefe lösten einen Tsunami aus, der mit Wellenhöhen von über 10 Meter auf die Küste zuraste und im Kernkraftwerk Fukushima einem SuperGau auslöste.

Seit 30 Jahren lebt die Schriftstellerin Yoko Tawada in Deutschland, zuerst in Hamburg und jetzt in Berlin. Während ihrer Schulzeit in Tokyo hat sie etliche kleinere Erdbeben erlebt, und sie erinnert sich an die regelmäßigen Übungen im Klassenzimmern, bei denen ihnen beigebracht wurde, wie sie sich im Fall einer Naturkatastrophe zu verhalten haben.

Yoko Tawada : "Aber das ist nicht nur das Training, sondern durch diese Übung wird es immer wieder ins Bewußtsein gerufen, dass es sowas gibt, und dass das zu jeder Zeit passieren kann. Und dadurch wird die Wahrnehmung der Zukunft und der Jetztzeit ganz anders, glaube ich. Jetzt ist die Zeit, wo im nächsten Moment was ganz anderes kommen könnte ... und nicht diese Ausdauer, der Frieden, was ich in Norddeutschland besonders genieße. Also ich lebe schon lange ... ich habe lange in Hamburg gelebt, und da gibt es auch kaum Naturkatastrophen. Einmal waren wir bedroht durch die Überflutung von der Elbe, was ... aber da ist nichts passiert. Und in Berlin gibt es keine Natur ... ich meine, es gibt Bäume, ganz viel Bäume, viel mehr als in Tokyo, aber sie sind sehr freundlich, sie tun nichts. Das ist eine ganz andere Natur."

Istanbul - Innenstadt

Etwa alle 250 Jahre kommt es in der Region des Marmarameeres zu einem schweren Erdbeben. Dieser Zyklus, der sich aus der Geschichte ergibt, neigt sich jetzt seinem Ende entgehen und die Geologen rechnen damit, dass Istanbul in den nächsten 30 Jahren von einem Beben der Stärke 7,2 oder 7,4 erschüttert werden wird. 2,5 Zentimeter pro Jahr bewegt sich die anatolische Platte nach Westen, ihr nördlicher Rand ist aber mit Eurasien verhakt. Wenn sich die aufgestaute Spannung plötzlich löst, verschieben sich die Kontinentalblöcke um mehrere Meter gegeneinander. Celal Sengör erklärt, welche Magnitude er für das kommende Beben erwartet.

"Wenn ein Block, der 15 km breit, 10 km tief, 160 km lang ist, wenn dieser Block sich in wenigen Sekunden um 5 m schiebt, was für eine Kraft man brauchen würde ?! Man kann von dieser Kraft natürlich die dazu nötige Energie kalkulieren und von dieser Energie konnten wir damals sagen, dass, wenn die ganze Verwerfung auf einmal bricht, wird sich dann eine Erdbebengröße von 7,6 ergeben. Und das ist natürlich eine Katastrophe. Und dann haben wir gesagt : Ist es in der Vergangenheit passiert ? Und die Antwort war ja. 1766 Istanbul war zerstört, zum Beispiel die Moschee des Eroberers war total zerstört ... Fatih Moschee. Und dann haben wir gesehen, in 1509 war noch ein verheerenderes Erdbeben, man nannte das die ... es gab eine arabisches Wort, das "Die kleine Apokalypse" heißt ... , das war zur Zeit des Beyazits II, und der Sultan hat die Stadt geflüchtet. Ja, ja, der ist nach Edirne gegangen, und nach seiner Ankunft ,"Bäng", noch ein Erdbeben ... in Edirne diesmal. Der arme Mann."

Literatur:

- "La Malediction de Constantin" von Mine G. Kirikkanat, aus dem Türkischen von Valérie Gay-Aksoy, Editions Métailié, Paris 2006

- "Fremde Wasser" von Yoko Tawada. Herausgeberin Ortrud Gutjahr. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 2012

- "March was made of yarn - writers respond to Japan's earthquake, Tsuanmi and nuclear meltdown ". Harvill Secker, London 2012

- "Japan - Außer Kontrolle und in Bewegung" von Judith Brandner, Picus Verlag

- "Und plötzlich tut sich der Boden auf" von Yanick Lahens, Rotpunktverlag Zürich, 2011

- "Ein Planet voller Überraschungen - neue Einblicke in das System Erde" von Reinhard F. J. Hüttl (Hrsg.). Spektrum Akad, Verlag, 2011

Auszug aus dem Manuskript:

In ihrem 2005 erschienenen Roman "Bir gün, gece" beschreibt die türkische Journalistin Mine Kirikkanat, was passieren könnte, wenn die Wirtschaftsmetropole Istanbul durch ein schweres Erdbeben total verwüstet wird. Sie stützt sich dabei auf Untersuchungen von Professor Mustafa Erdik, dem heutigen Leiter des Erdbebenobservatoriums Kandilli. Der Geologe Celal Sengör war der Erste, der diese Untersuchungen im Fernsehen publik machte und auf die Konsequenzen hinwies, die sich aus einer Zerstörung, bzw länger anhaltenden Lähmung der türkischen Wirtschaft ergeben könnten.

Celal Sengör : "Und stellen sie sich mal vor : Wenn Istanbul erschüttert wird ... Mustafa und seine Leute haben damals kalkuliert, 50 Milliarden Dollar würde man in einer Nacht brauchen. Die Türkei hat das Geld nicht. Ok. Die Türkei wird betteln müssen. Und dann werden die Europäer und die Amerikaner sagen, gut, wir helfen, aber zuerst, bitte sagen sie uns, was sie mit den 8 Milliarden Dollar, die wir schon bei dem letzten Erdbeben gegeben haben, gemacht haben ?! Wo ist das Geld ? Was ist damit passiert ? Niemand hat eine Ahnung ... wir haben gar nichts gesehen. Und dann ... Istanbul, wie gesagt, das ist ein Welterbe ... und wenn das passiert, die werden sich dafür interessieren, die werden sagen, ok, wir geben das Geld, aber wir kommen mit unserem Geld zusammen, um Istanbul wieder auf die Beine zu bringen. Und, was das heißt, ist dass die Türkei die Souveränität über Istanbul verloren hat. Und zu Recht auch "!

Yannik Lahens, Haiti, Januar 2010

Ein junges Mädchen geht über die Straße, trägt Lockenwickler im Haar. Sie hat noch Lust, schön zu sein, und läuft wie im Rausch in den Tag hinein, einem Begehren voraus, das so jung ist wie sie. Und ich lächle, denn hier strahlt noch Licht, hier und dort hinten und überall ringsumher auch. Mit diesen kontrastreichen Bildern im Kopf fahre ich weiter.
Doch als ich in meine Straße einbiege, sehe ich J. vor ihrem Haus stehen, und ihr Gesichtsausdruck versetzt mir den nächsten Stich. Ich ahne, dass sich Michas Lage verschlimmert hat. Ich fahre langsamer. Ich sage J. nichts von meinen Verwandten in der Stadt, die wohlauf sind. Das wäre unangebracht, taktlos. Sie hat rot geweinte Augen und erklärt mir in einem unterdrückten Schluchzer, dass Micha tot ist. Man hat ihn leblos aus den Trümmern geborgen, das rechte Bein gebrochen. Weil er den nahen Tod spürte, hatte er seine Retter gebeten, sich nicht mehr um ihn, sondern um die zu kümmern, die eine Überlebenschance hatten. Er hat noch ein letztes Mal mit seinen beiden Söhnen, einundzwanzig und neunzehn, gesprochen, bevor er gestorben ist, beschreibt J. mir. Ich unterdrücke meine Tränen und nehme J. in die Arme. Wortlos. Zu Hause, alleine im Verborgenen, weine ich zum ersten Mal über alles, was ich bisher gesehen habe. Die Stadt, die Toten, die Verletzten, die Verschwundenen, die Kinder, immer wieder Kinder, das riesengroße Leid und die Zukunft, die ich nicht sehe.
...
Auch Yannik Lahens beschäftigt sich in ihrem Buch "Und plötzlich tut sich der Boden auf" mit den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die eine Naturkatastrophe vom Ausmaß des Bebens am 12. Januar 2010 in Haiti nach sich zieht. Haiti und Japan sind Gegenpole, nicht nur in geographischer Hinsicht, aber für beide Länder gilt, dass 40 Sekunden Erdbeben das Leben einer Volksgemeinschaft für immer verändern können.

So rasch, wie die einen abreisen, stellt sich neuer Besuch ein. In den folgenden Tagen kommen Alix und Fabienne aus New York, denen kaum Zeit bleibt, verlorene Verwandte zu betrauern, bevor sie ihre Arztkittel überziehen und sich eine Woche lang in Arbeit stürzen. Unermüdlich. Meine Schwester kommt eine Woche später und tut es ihnen gleich. Dank ihnen habe ich eine Vorstellung von einer kleinen, einer winzigen Facette des Leids, das die Stadt tagein, tagaus erträgt. An einem Abend berichtet ein haitianischer Orthopäde über die ungeheure Leistung, die die Arzte vollbringen, und nennt auch erschreckende Zahlen: In den ersten zwei Wochen wurden täglich sechzig bis hundert Amputationen durchgeführt. Von zweihundertfünfzig Patienten, die in das Zentrum eingeliefert wurden, in dem er Dienst tat, wurden vierzig amputiert, darunter sechs Kinder. In einem Land, das schon größte Schwierigkeiten hat, angemessen für Menschen ohne Behinderung zu sorgen. Schrecklich. Schrecklich. Dabei wird mir klar, dass auch die haitianische Medizin einen schweren Schlag erlitten hat. Ihr droht heute von allen Seiten Gefahr. Sie ist aufgefordert, sich zu verändern. Mittel und Wege zu finden, allen Menschen bessere Dienste zu leisten, sowohl im Hinblick auf Qualität als auch, was die Quantität angeht. Sie sollte sich mit der internationalen Hilfe abstimmen, mit der aus Kuba, die ja weder von NGOS noch von anderen zahlreich angereisten Rettern kommt. Die Großzügigkeit zog übrigens einen weniger offenkundigen Tatbestand nach sich: den Uberfluss. Dieser humanitäre Ansturm ging auf Kosten der haitianischen Gesundheitszentren, auch auf Kosten der Ärzte. Die haitianische Bevölkerung hingegen kam in den Genuss von etwas, das bisher ein Privileg gewesen war: das Recht auf Gesundheit. Wann wird unser Gesundheitswesen endlich so geregelt, dass die gesamte Bevölkerung Zugang zu Gesundheitsversorgung hat, ohne dass man zugleich die lokale Medizin erstickt?
Abends, wenn ich mit meiner Schwester L. am Tisch sitze, reden wir über alles Mögliche, auch über unsere Kindheit. Die wie ein Rätsel ihren Platz in uns hat. Sie durchzieht Jahreszeiten, Orte und Worte. Wir kehren zu ihr zurück wie an eine Quelle, die wir jahrelang nicht aufgesucht haben. Wir vergessen die Dinge, die uns im Augenblick belasten, das Bedrückende der Zeit, die vergeht. Die Quelle ist kristallklar, die Bilder ungetrübt. Und der Mond ist mit dabei, der inmitten der Sterne eingenickt ist und uns lachen hört.