Das Sein als Mysterium

16.07.2008
Jeder hat eine Religion, es weiß nur nicht jeder, sagen Theologen gern, wenn sie mit Atheisten sprechen. Keiner hat eine Religion, er erfindet sich nur eine, sagen Atheisten gerne, wenn sie mit Theologen und anderen gläubigen Menschen sprechen. Beide sollten das Buch "Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott" von André Comte-Sponville lesen.
"Als Junge habe ich mich einmal dem Religionslehrer an meinem Gymnasium anvertraut: "Soviel ich auch bete, Gott spricht nicht mit mir!" Der Priester, ein Mann mit Herz und Hirn, gab mir die schöne Antwort: "Gott spricht nicht, weil er zuhört." Das hat mich lange beschäftigt. Aber auf Dauer wurde ich des Schweigens überdrüssig und schließlich misstrauisch. Woher sollte ich wissen, dass das Schweigen vom Zuhören kam und nicht von seiner Abwesenheit?"

Der 1952 geborene katholisch aufgewachsene André Comte-Sponville ist Philosoph geworden – und Atheist. Seine Erinnerung ist ein schönes Beispiel dafür, dass jeder denkende Mensch schon früh im Leben Grundfragen stellt. Manche dieser Fragen beziehen sich auf Gott. Im weitesten Sinne. André Comte-Sponville ging es darum, wie er die Welt ansehen kann und sich in der Welt.

Zunächst beschreibt der französische Gelehrte – der Mann war Philosophie-Professor an der Sorbonne – warum er nicht an Gott glaubt, warum er aber nicht nur ein Agnostiker ist, sondern glaubt, dass es Gott nicht gibt. Zwei Drittel seines Buches referiert Comte-Sponville elegant und leicht zu lesen, welche wesentlichen Fragen und Gottesbeweise durch die Jahrtausende überliefert sind und erklärt und begründet seine persönlichen Schlüsse. Obwohl sie logisch sind, legt er großen Wert darauf, dass er zwar ein bekennender Atheist ist, aber kein eifernder:

"Die Menschen sind zu schwach und das Leben (ist) zu schwer, als dass man es sich erlauben dürfte, auf den Glauben eines anderen zu spucken. Fanatismus ist mir fremd, auch der atheistische."

Das ist einer der guten Gründe, die Comte-Sponville nennt, um Laizismus, Religionsfreiheit ebenso wie das Recht auf Freiheit von Religion als zentral für eine aufgeklärte Gesellschaft hervorzuheben.
Wenn es aktuell um Werte und Religion geht, ist dennoch immer wieder zu hören, ohne Religion gäbe es keine Werte und deshalb keinen gesellschaftlichen Halt. Halt brauchen wir unbedingt, da stimmt Comte-Sponville zu:

"Man braucht (…) einen tieferen bedeutsameren, dauerhafteren, weil inneren oder verinnerlichten Zusammenhalt. Das nenne ich 'Kommunion'. Wie könnte eine Gesellschaft darauf verzichten? Ohne Kommunion gibt es keine Bindungen, keine Gemeinschaft, also auch keine Gesellschaft."

Allerdings, so schreibt der Franzose, bedürfe es für diesen Zusammenhalt keiner Religion. Warum sollten Atheisten sich nicht auch auf die überlieferten Weisheiten beziehen, sind sie doch universell, nämlich für alle großen Religionen zentral.

"Nur wer kulturell konservativ ist, kann politisch fortschrittlich sein. … Es wäre falsch mit der Vergangenheit zu brechen! Es geht, bis auf ein paar Ausnahmen, nicht um die Schaffung neuer Werte, sondern um ein neues und erneuertes Bekenntnis zu den alten Werten, die wir weitergeben müssen."

Gerechtigkeit, Mitgefühl, Liebe – diese immer wieder gefährdeten menschlichen Möglichkeiten leuchten ein ohne jeden Glauben, ohne Gott, ebenso wie moderne Errungenschaften, Demokratie und Menschenrechte beispielsweise. Bekenntnis, Gemeinschaft und Liebe sind übergeordnete Werte und grundlegend, so Comte-Sponville. In dieser Übereinkunft können sich Gottläubige, Agnostiker und Atheisten mühelos treffen ohne einander missionieren zu wollen. Man könnte mit dem Buchtitel sagen: Daran glaubt auch ein Atheist. Comte Sponvilles Buch hat aber auch einen Untertitel, und der lautet: "Spiritualität ohne Gott".

Im letzten Drittel seines Buches wird der Franzose sehr persönlich, ja intim. Vor dem Hintergrund der Geistes- und Religionsgeschichte schildert er seine eigenen spirituellen Erfahrungen, die mit dem von Sigmund Freud so genannten "Ozeanischen Gefühl" zu vergleichen sind. Wer ähnliches kennt, wird hier womöglich Begriffe finden für etwas, worüber schwer zu sprechen ist. Comte-Sponville erklärt seine spirituellen Erlebnisse ohne Fantasterei, ohne Pathos, sondern ebenso rational wie er seinen Atheismus erklärt. Ihm geht es nicht um modischen Hokuspokus, sondern um tiefstmögliche existenzielle Erfahrungen. Es ist großartig, wie er von sich ausgehend über sich hinaus denkt und es schafft, auch dieses komplexe Erleben sprachlich zu fassen und nach-denkend abzubilden.

"Die Welt ist unser Ort; der Himmel unser Horizont; die Ewigkeit unser Alltag. Das erschüttert mich mehr als die Bibel oder der Koran. Das verblüfft mich mehr als die Wunder, wenn ich denn an sie glauben würde. Übers Wasser zu gehen – was für eine Lappalie angesichts des Universums!"

Als Junge war André Comte-Sponville bedrückt, weil Gott schwieg. Als Erwachsener erlebt er in spirituellen Momenten, dass Schweigen unabdingbare Voraussetzung ist für Momente vollkommenen Daseins.

"Wie lächerlich kamen mir da die Gebete meiner Kindheit und Jugend vor! Zu viele Worte. Zu viel Ego. Zu viel Narzissmus. Was ich in jener Nacht (…) erlebte oder erahnte, war eher das Gegenteil: eine Wahrheit ohne Worte, ein Bewusstsein ohne Ego, ein Glück ohne Narzissmus.
(…) Nicht das Wort, sondern das Schweigen. Nicht der Sinn, sondern das Sein. Das ist das Reich der Spiritualität oder der Mystik außerhalb der Religion. Das Sein ist das Mysterium, nicht etwa, weil es verborgen wäre oder selbst etwas verbirgt, sondern, weil Evidenz und Mysterium ein und dasselbe sind – weil das Mysterium das Sein selbst ist."

Rezensiert von Barbara Dobrick

André Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes Verlag
244 Seiten, 18,90 Euro