Das Schiff der guten Hoffnung

Von Peter Marx · 24.05.2009
Es war der 12. Januar 1966. In Vietnam tobte der Krieg zwischen Nord- und Südvietnam, zwischen US-Truppen und Vietcong. Und in Bonn traf das Kabinett die Entscheidung: Keine deutschen Soldaten werden nach Vietnam geschickt. Um den amerikanischen Bündnispartner zu beruhigen, entschied das Kabinett am gleichen Tag: Deutschland schickt ein Hospitalschiff ins Kriegsgebiet.
Mister Dick läuft über die Promenade der Bat Mang-Straße im Zentrum Da Nangs, schaut nach Spuren. "Hier, sagt er, "hier muss es gewesen sein." Der 59-jährige Vietnamese sucht nach dem genauen Liegeplatz des ehemaligen Hospitalschiffes "Helgoland", das hier am Ufer des lehmfarbenen Han-Flusses von1967 bis 1972 gelegen hat. Mister Dick, so stellt er sich selbst vor, arbeitet drei Jahre als Dolmetscher auf dem Schiff. Heute führt er deutsche Touristen durch die alte Hafenstadt Da Nangs, fast in der Mitte Vietnams gelegen. Wieder geht er hektisch paar Schritte zwischen den aufgestellten Skulpturen: Löwen, Kraniche, Buddha-Figuren groß und klein, modern und kitschig, alle aus Marmor. Mister Dick sucht die Stelle einer alten Stehle, die zu Ehren der "Helgoland" am Ufer des Han-Flusses aufgestellt wurde. Der letzte Hinweis auf die "Helgoland" ist jedoch ein Opfer der Modernisierungsarbeiten entlang der Bat Mang-Straße geworden. Der alte Flusshafen wurde abgerissen und über die alten Anlegestellen ragt heute die Flanierpromenade mit den vielen Skulpturen. "Mit der Geschichte", sagt Mister Dick, "sind wir manchmal leichtfertig." Trotz der vielen guten Erinnerungen, von denen er ständig spricht.

Lübecker Innenstadt, morgens. Die dichten Wolken ziehen schneller am Himmel dahin, als die Menschen auf den Straßen. Der Verkehr ist viel leiser, die Dynamik der Stadt gemächlicher als in Da Nang, rund 12.000 Kilometer von der Ostsee entfernt. Im Büro der Oberin Irma Totzki wird Kaffee serviert. Sie, die Chefin aller Rot-Kreuz-Schwestern in der Region Lübeck, residiert im Rot-Kreuz-Krankenhaus, direkt am Ufer der Wakenitz

In ihrem großen Büro, gefüllt mit vielen Staubfängern, trinkt sie Kaffee mit Marlies und Jos Montanus. Die drei arbeiten gemeinsam auf dem Hospitalschiff. Die Frauen als Krankenschwestern, der Rentner als Bootsmann. Sie halten Kontakt zueinander, wie fast alle ehemaligen Mannschaftsmitglieder der "Helgoland". Sogar einen Verein gründen die Ex-Helgoländer. Irma Totzki ergreift, weil so gewohnt, Kaffeekanne und Wort, erklärt den Grund für ihren Einsatz auf der "Helgoland":

" Ich habe damals in Bonn gelebt. Ich habe die großen Studentenunruhen in Bonn erlebt, wo Menschen, junge Menschen gegen einen mörderischen Krieg demonstrierten mit Gewalt. Das hat mich sehr ab…, das fand ich also unmöglich. Ich habe das sehr abgelehnt und dann kam … Ich habe damals auf einer chirurgischen Unfallstation gearbeitet, dann kam der Aufruf durch unsere Schwesternschaft, ob nicht die eine oder die andere sich vorstellen könnte, auf der "Helgoland" in Vietnam zu arbeiten. Da habe ich mich gemeldet und das ging dann relativ schnell. "

Oberin Totzki hat sicher nie "Ho-Ho-Ho Chi Min" auf der Straße skandiert. Der Einsatz der "Helgoland" verbindet sie mehr mit Rot-Kreuz- Aktionen als mit der damals schwierigen Lage der deutschen Bundesregierung. Die USA wollen deutsche Soldaten für den Vietnamkrieg, ein paar tausend wenn möglich. Der Kompromiss ist der Einsatz des Hamburger Seebäderschiffes "Helgoland" in Vietnam; nach einem Umbau zu einem Hospitalschiff.

Totzki: " Und natürlich war es ein erheblicher Schock, als ich in Vietnam ankam. Das war kurz nach der Tet-Offensive 1968. Wir hatten wahnsinnig viel Schwerstverletzte, vor allen Dingen Kinder und Frauen und … Ich bin manchmal froh gewesen, dass ich nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte, weil wir uns um die Menschen kümmern mussten. "

Die heute 62-jährige Oberin macht zwei lange Einsätze auf der "Helgoland", bleibt insgesamt 25 Monate auf dem Schiff in Da Nang. Eine Weltverbesserin? "Nein, nein", wehrt die kräftige Irma Totzki vehement ab. Sie ist pragmatisch, ja, aber keine Träumerin.

Totzki: " Es hat mich außerordentlich erschüttert, mit welcher Aggressivität, mit welcher Wut Steine in Bonn auf dem Marktplatz in Häuser, auf Autos geschmissen wurde mit dem Obertitel "Amerikaner hört auf mit dem Krieg in Vietnam". Das hat für mich nicht gepasst. Die Menschen sind unterschiedlich gestrickt."

Wie unterschiedlich - lernte die damals 22-jährige Krankenschwester spätestens nach der Ankunft auf dem Schiff kennen. Nach der ersten Führung durch die Bettensäle mit bis zu 300 Patienten. Ein Bett neben dem anderen, gestapelt bis fast zur Decke. Und alles nur Schwerstverletzte.

Totzki: " Es war unwahrscheinlich eng. Wir hatten also Kammern, wo zwei überein…, wo die Betten übereinander waren. Ich glaube, wir hatten dann als Raum 2 ½ qm mit 2 Menschen zur Verfügung. Was mich persönlich sehr beeinflusst hat, ist dass man voneinander, dass man nicht irgendwo sich mal zurückziehen konnte. Man hat im Grunde ganz, ganz wenig …, ja individuelle Freizeit, individuelle, individuellen Bedürfnissen, einfach mal Ruhe zu haben, in Ruhe mal ein Buch lesen zu können oder so etwas. Das war nicht drinnen, weil irgendjemand kam. Und wir waren ja auch alle übervoll mit den vielen Dingen, mit denen wir umgegangen sind. "

Oh! Ja, ja, An Schwester Totzki kann sich Duong Thi Bay noch sehr gut erinnern. Die 66-Jährige in ihrer traditionellen Kleidung, einem olivfarbenen Au ba ba, geschnitten wie ein Pyjama, huscht durch das leere Restaurant, verschwindet in ihr Zimmer, im zweiten Stock ihres schmalen Haus im Da Nanger Bezirk Lien Chieu. Sie kommt zurück, legt ein kleines Foto auf die Resopalplatte des Tisches. Es zeigt eine blonde, ernst blickende Krankenschwester. Auf der Rückseite des Bildes steht ein Wort: Totzki. Thi bei hält das Bild hoch wie der Pfarrer seine Monstranz, erzählt von den "guten Tagen auf dem Hospitalschiff".

" In jeder Abteilung des Hospitalschiffes gab es deutsche Krankenschwestern. und ich war eine Helferin, die für die Schwestern übersetzt und ihnen bei der täglichen Arbeit geholfen haben. "

Mopeds und Motorroller fahren durch die enge Luong Bang Straße, kaum breiter als 2 Meter. Rund um das Restaurant kleine Geschäfte und Verkaufstände für Obst, Gemüse, Reis. Kein Tourist ist zu sehen, nur Einheimische. Thi Bei zupft an ihren Goldrand-Brille, legt das Foto wieder auf den Tisch. Durch einen Bekannten erfährt sie damals, dass auf dem deutschen Schiff einheimische Krankenschwestern gesucht werden.

" Damals gab es wenig Arbeitsplätze. Aber jeder brauchte Arbeit, um Familie zu unterstützen. Wir hatten Krieg. Im "Helgoland"-Schiff habe ich besser verdient als in einem vietnamesischen Krankenhaus. Und ich war nicht die einzige Südvietnamesin, die für Ausländer gearbeitet hat. Deshalb hatte ich auch keine Probleme mit der Familie oder der Verwandtschaft. Ich hatte keine Angst. "

Da Nang gehört 1967 zum umkämpften Gebiet. Hier landen die ersten amerikanischen Soldaten an der China-Beach. Die Stadt wird zum Vergnügungs- und Erholungszentrum der amerikanischen Armee. Zehntausende US-Soldaten sind ständig in der Stadt. Der Vietkong, die vietnamesische Rebellenarmee, ebenfalls.

" Am Anfang hatte ich Angst, wirklich viel Angst. Vor allem in der Nacht war es in Da Nang gefährlich. Es wurde geschossen, Granaten flogen, Minen explodierten. Es war gefährlich. Aber mit der Zeit hatte man sich daran gewöhnt, an Sachen, die man noch nie gesehen hatte. Und wenn ich spätabends nach Haus ging, passte ich sehr genau auf und sucht immer Deckung, wenn Schüsse fielen oder Raketen flogen. Nachts wurde immer der amerikanische Flughafen von den Vietkongs mit Raketen und Artillerie beschossen. Die Raketen galten aber nicht dem Schiff. Dort war es vergleichbar sicher. "

Thi Bei springt auf, tippelt mit kleinen Schritten auf die schmale Terrasse mit der schmutzigen Markise, umarmt eine etwas gleichaltrige Frau. Ihr Freundin, Nachbarin Luong Thi Hay, ebenfalls Krankenschwester auf der "Helgoland". Sie setzt sich mit an den Tisch, fängt an zu schwärmen von der Zeit auf dem Schiff". Die beiden Frauen sprechen über die Angst, während des "amerikanischen Krieges", wie er in Vietnam genannt wird. Beide Frauen geben heute zu, dass sie damals die Amerikaner, die Besatzer nicht mochten, sogar manchmal hassten. Sie machten die fremden Soldaten für den Krieg verantwortlich. Und die Deutschen, ebenfalls Fremde in ihrem Land? Wie war ihre Einstellung zu ihnen. Thi Hay findet diesen Vergleich falsch, die Frage überhaupt nicht gut.

" Ich hatte keine Angst. Auch nicht bevor ich auf das Schiff kam. Warum sollten mir Deutsche was tun. Ich hatte auch keine Angst vor Amerikanern. Ich hatte eigentlich nur Angst, dass die Anforderungen zu groß für mich sind und ich die Arbeit nicht richtig schaffen werde. Aber die ersten Schwestern, die ich kennen lernte und mit denen ich zusammengearbeitet haben, haben mir sehr geholfen. "

Sie kramt in ihrer grauen kleinen Tasche, holt – wie als Bestätigung – eine alte Weihnachtskarte hervor, abgestempelt in Lübeck, von Oberin Totzki, die über ihre Familie schreibt.

Aufmerksam verfolgen in Lübeck die ehemaligen Krankenschwestern und der Bootsmann einen Videofilm, obwohl sie jede Einstellung auswendig kennen. So oft haben sie ihn schon gesehen. ""Nur leichte Kämpfe im Raum Da Nang", heißt der Dokumentarfilm von Hans-Dieter Grabe, der Anfang der siebziger Jahre im Fernsehen zu sehen ist. Ein Schock für die Zuschauer. Nicht nur als der Kapitän des Schiffes erzählt:

" Es kann doch leicht vorkommen, dass Raketenbeschuss besteht, weil rundum um unseren Liegeplatz doch verschiedene Camps liegen, welches auch wieder Objekte für einen Raketenbeschuss wäre. Und da die Zielgenauigkeit dieser Raketen doch nicht so hundertprozentig ist, kann es leichter vorkommen, dass hier unser Schiff dadurch gefährdet werden könnte. "
Ex-Bootsmann Montanus lehnt sich in den Sessel im Büro der Oberin zurück, verfolgt jedoch weiter jede Sequenz des Films. Vor allem die An – und Ablegemanöver der "Helgoland" sind ihm wichtig, weil er diese Manöver mit seinen 30 Mann nautischem Personal bis zum Erbrechen trainiert. "Am Schluss waren wir in vier Minuten von der Pier weg mitten im Fluss", sagt Jos Montanus.

" Das war auch zwingend erforderlich, denn als wir den nächsten Tag zurückkamen, dann war an der Pier ein zwei bis drei Meter tiefes Loch. Das war also eine Explosion eingeschlagen, ne. Und von daher gesehen war das schon eine … Organisatorisch lief das eigentlich … Man kann das nicht mit einem Frachtschiff vergleichen. Nämlich das ist ja … Erst mal sind viele Pflegepersonal drauf, dann die Patienten und die Seeleute. "

Dann bricht der Mann ab, reibt sich die Finger und schaut gebannt auf den Film,
in dem gerade ein junger Vietnamese von einem deutschen Chirurgen operiert wird,

" Bei dem Jungen sind jetzt vier Wochen seit der Verletzung vergangen. Heute werden wir den rechten Oberschenkelstumpf, der ja zu lang ist und für eine Prothese ungeeignet, weiter verkürzen, damit der prothesenfähig wird. "

Das Bild wechselt, bleibt bei einem Pfleger stehen, der auf die schwer verletzten Kinder
deutet:

" Ich frag mich oft, was das ganze noch für einen Sinn Hat irgendwie. Das fragt sich natürlich irgendwie jeder, der sich Gedanken über den Krieg macht. Aber ich hab mir den Krieg immer so vorgestellt, dass Soldaten vielleicht gegeneinander kämpfen. Aber was ich hier seh, das sind lauter zerschossene, zerfetzte Kinder, die im Schlamm liegen, die kurz vor dem Sterben sind. "

Das Dorf liegt unweit der Nationalstraße 1 in Vietnam, vielleicht vierzig Kilometer von Da Nang entfernt. Auf den tiefgrünen Reisfeldern grasen Wasserbüffel und Bauern ernten Reisbüschel. In einer unbefestigen Seitenstraße wohnt Nguyen Thi Chi. Sie hat ein eigenes kleines Haus, mit Bananenpflanzen im Garten. Das Auto stoppt, Thi Chi winkt herein und gibt ihrem roten Rollstuhl einen Schubs, um ins Hausinnere zu kommen.

Thi Chi ist 16 Jahre alt, als sie nachmittags ihrer Familie bei der Reisernte helfen will. Zwei Kilometer vom Dorf entfernt tritt sie auf eine Mine.

" Amerikanische Soldaten fanden mich und brachten mich dann nach Da Nang und dort auf die "Helgoland". Sie glaubten, dass man mir dort schneller helfen kann als in einem unserer Krankenhäuser. Ich war schwer verletzt, beide Beine waren zerfetzt und mein rechtes Auge war durch einen Splitter verletzt. "

Ein Jahr bleibt Thi Chi auf der "Helgoland", dann kommt das Mädchen in ein vietnamesisches Krankenhaus. Heute lebt sie mit ihrer Mutter und Schwester in dem kleinen Haus, mit den wenigen Möbeln im Wohnzimmer. Immer wieder kommt auf das Hospitalschiff zurück:

" Ich habe auf dem Schiff viele Freunde gehabt. An die meisten kann ich mich nur noch grob erinnern. Aber an eine Krankenschwester kann ich mich noch gut erinnern. An Schwester Brigitte. Bis vor der Vereinigung haben wir uns regelmäßig geschrieben. Das war schön. Leider ist der Kontakt dann abgebrochen. Das ist fast 30 Jahre her. "

Thi Chi verabschiedet sich. Wo früher ihr rechtes Auge war, ist heute eine lange Narbe. Am Schluss zeigt sie noch auf die ausgedehnten Reisfelder "Dort hinten war es", sagt sie noch.


Rückfahrt nach Da Nang. In den Jau-Bezirk, ein freundlicher Wohnbezirk in der Nähe der
der Innenstadt. Hunderte von Mopeds-, Roller-, und Fahrradfahrer wuseln durch die engen Straßen des Bezirks mit den vielen Bäumen an den Straßenrändern. Thi Nguyet / tee Nabjit)
62 Jahre alt, zupft sich ihren hellblauen Au Ba Ba zurecht, bittet ins Wohnzimmer. Vier Jahre arbeitet sie auf dem Hospitalschiff – und nimmt sich zum Abschied eine Rotkreuz-Decke als Souvenir mit. Nachdenklich setzt sie sich, hält die verwaschene Decke in den Händen, erzählt von "der guten Zeit".

" Wenn ich über "Helgoland" nachdenke, denke ich immer an die Toleranz, die auf dem Schiff herrschte. Die Ärzte und Schwestern machten keinen Unterschied. Sie behandelten Vietnamesen genauso wie Amerikaner und Europäer, die auf dem Schiff lagen. Da gab es keinen Unterschied. "

Der Lärm wird unerträglich: Gegenüber wird die Straße aufgerissen und ein neues
Haus gebaut. Die Rentnerin schließt Fenster und Türen, trotz der 38 Grad Außentemperatur. Zwischen Schreibtisch, blauen Plastikstühlen und Sideboard warte ihre Freundin Nuet, ebenfalls Ex-Krankenschwester auf dem deutschen Schiff. Zur Bestätigung zieht sie ein dünnes Papier aus der Hosentasche, darauf das Symbol des Roten Kreuzes und auf Deutsch darunter "Arbeitszeugnis." "Grüßen Sie alle", sagt die Rentnerin zum Abschied.

12.000 Kilometer entfernt, am Bodensee, deckt die 60-jährige Constanze Hundt den Kaffeetisch. Zusammen mit ihrem Mann Willi, der draußen im Garten arbeitet, will sie das Wochenende einleiten. Das Haus der Rentner liegt in der Nähe von Radolfszell. Von der Terrasse sind die Alpen zusehen, vom Hauseingang der Bodensee. Constanze und Willi Hundt haben sich auf der "Helgoland" kennen gelernt. Sie die medizinisch-technische Assistentin, er der Bäcker an Bord. Constanze Hund unterbricht ihre Arbeit:

" Wir hatten ja an Land, also unmittelbar neben der Pier, zwei Baracken, zwei Ambulanzbaracken. Da wurden eben die Leute dann zu mir hochgeschickt zum …, meistens, zum größten Teil zum Lunge röntgen, weil es ein Riesenanteil war. Also enorm, hatte Tuberkulose im höchsten Stadium, so was gab’s, habe ich noch nie in Deutschland gesehen. Und auch die neuen Ärzte, die kamen, wenn die die Bilder sahen, die fragten mich immer, wie hast du denn die Aufnahme gemacht, der muss doch schon fast tot gewesen sein. Sage ich, ne, ne, der ist munter mit seiner Aufnahme unterm Arm wieder nach Hause spaziert und hat wohl die Tabletten, die er da einnehmen soll, am Schwarzmarkt dann wieder verkauft, ne. So war halt die Realität, ne. "

Der Duft von frischgebackenem Kuchen zieht durchs Zimmer. Willi Hundt bringt Fotoalben mit der Aufschrift ""Helgoland"." Und jedes Bild ist eine Geschichte. Constanze Hund zeigt auf ein verblasstes Foto: Zwei Männer tragen eine Verletzte ins Schiff

" Also, es konnte sein, dass plötzlich mal ein ganzer Bus, der eben mal auf eine Mine lief, da ankam, angeliefert wurde, oder sonst wie Raketenangriffe. Da kamen, wurden die zum Teil auch von Amerikanern angeliefert, die Leute aus den Dörfern, wenn sie zerfetzt waren usw. "

Ein Foto fehlt: Vom Raketenangriff auf die "Helgoland". Doch Constanze Hund kann sich
auch vierzig Jahre später noch an jede Kleinigkeit erinnern:

" Ja, den habe ich live erlebt. Da hatte ich gerade Bereitschaftsdienst und das war nachts, da hatte ich noch einen Brief geschrieben. Und es war sehr ruhig, denke ich, ach, jetzt bringst du noch den Brief hoch in unseren so genannten Bordbriefkasten. "

Danach geht sie in Pantry, die Bordküche, um sich eine Wurststulle zu schmieren …

" … in dem Moment knallt‘s. Und dachte ich, das ist der wachhabende Soldat, der spielt mal wieder verrückt, weil die haben ja öfters nachts auf alles, was im Fluss geschwommen ist, geschossen, weil die dachten, es sind vielleicht Treibminen oder so. Und dieser Kriegslärm um uns rum war eigentlich, man war so dran gewöhnt, man hat es als völlig normal empfunden. Dann kracht es aber noch mal, aber so …Und dann mache ich die Tür auf und da sehe ich, da ist ja alles voll Scherben, total alles voll Scherben, sämtliche Fenster an der Steuerbordseite waren kaputt. Auch im OP, auch in anderen Räumen, aber ich sah nun erstmal in diesem Lesesaal – d. h. das war ein kleiner Raum – alle Fenster kaputt. Da bin ich erst mal ins Labor gelaufen. Da war noch alles okay. "

Willi, ihr Mann, nickt. Unterbricht aber nicht, obwohl er zu jedem Foto noch mindestens eine Geschichte zusätzlich erzählen könnte. Der Bäcker aus Konstanz arbeitet sechs Jahre auf der "Helgoland". Erst "aus Abenteuerlust", sagt er und später, weil es "eine tolle Aufgabe war". Beide reden jetzt über amerikanische Soldaten, die sie in Da Nang kennen gelernt haben: Gesunde und Verletzte. Constanze Hund fast ihre Eindrücke zusammen, damals in den 60zigern. Sie die junge Krankenschwester, die von Militär und Politik keine Ahnung hat und mitten im Vietnam-Krieg landet.

" Und bereits vielleicht nach vier Wochen habe ich gesehen, hier werden die Amerikaner nie gewinnen, nie. Und das war so im Juni etwa, Juni 70. Sage ich, niemals, und wenn die noch die modernsten Waffen und noch 100 000 Soldaten mehr einfliegen, die werden hier nie gewinnen. Denn wie kann ein amerikanischer Soldat bzw. Amerika da einen Krieg gewinnen, wenn das Volk, dem sie eigentlich helfen soll, also, das Beispiel in Irak oder Afghanistan, wenn das Volk die Amerikaner gar nicht will. Die waren so verhasst, die Amerikaner. Also nicht nur vom c. "

Dann klappt die Rentnerin die Alben zu. Schluss mit den alten Geschichten. "Es ist Zeit, den Kuchen zu essen", sagt sie noch und schüttet Kaffee in die Tassen ein.

10.000 Kilometer westwärts dümpelt die "Helgoland" an der Kaimauer von Bartolome auf den Galapagos-Inseln. Am Heck flattert die ecuadorianische Flagge. Vorne am Bug leuchtet der Name des Schiffes: Galapagos-Legend. So heißt heute das ehemalige Hospitalschiff. Nach der Rückkehr aus Vietnam dampfte das rund 100 Meter lange und 14 Meter breite Schiff bis 1999 als "Baltic-Star" in der Ostsee. Nach dem Ende der Butterfahrten wird die "Helgoland" wieder umgebaut – zum Kreuzfahrtschiff "Galapagos Legend". Vermutlich der letzte Name und der letzte Einsatz des Schiffes.