Das Phänomen Zirkus

20.11.2012
Schlangenmenschen, wilde Tiere, todesmutige Artisten: Auf der Suche nach der Sensation brachten deutsche Zirkusdirektoren immer neue Attraktionen in ihre Manegen. Sylke Kirschnicks Sachbildband beleuchtet die Kulturgeschichte des Zirkus von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis in die 1950er Jahre.
Seinen Geschmack traf das nicht mehr. Dabei hatte Ernst Jakob Renz selbst dramaturgisch ausgereifte und technisch komplizierte Zirkuspantomimen produziert. Aber die seit Mitte der 1880er-Jahre aufkommenden Wasserpantomimen, die illuminierte Riesenfontänen, Badenixen, Segelboote und sogar Dampfschiffe in die Manege brachten, waren für den Nestor der Zirkuswelt "unsägliche Plantschereien".

Und dennoch hatte auch Renz 1891 eine "Große hydrologische Ausstattungs-Comödie" im Programm. Nicht ohne triftigen Grund, wie Sylke Kirschnick in ihrer wunderbar bebilderten "Kulturgeschichte des Zirkus" beschreibt. Immerhin hatte der "Rivale Schumann in der vorangegangenen Saison das (Berliner) Publikum als Erster mit einer Wasserpantomime für sich eingenommen".

Tatsächlich ließe sich die Geschichte des Zirkus’ als Historie seiner berühmtesten Familien und ihres erbitterten Konkurrenzkampfes beschreiben. Doch Sylke Kirschnick verpackt stattdessen zirzensisches Auf und Ab von seinen Anfängen bis in die 1950er-Jahre in eine Buch gewordene Galavorstellung.

"Hereinspaziert!", schreibt sie daher am Ende ihrer Einleitung und lässt im Anschluss kapitelweise hintereinander auftreten: Dressurreiter, die mit ihren atemberaubenden Pferdenummern den Zirkus einst begründeten, Clowns, Pantomimen, Akrobaten, exotische Tiere und schließlich Fakire, Entfesselungskünstler und andere "sensationelle Novitäten".

Kirschnick beschreibt dabei nicht nur die einzelnen Artisten und ihre bekanntesten Nummern, sondern auch die zeitgeschichtlichen Bedingungen, die ihren Erfolg ermöglichten. So konnte etwa der Erfinder des europäischen Zirkus, der Kunstreiter Philip Astley, Ende der 1770er-Jahre auf pferdeaffine Kavalleristen, Adelige und Bürgerliche zählen. Die Clowns – auf gesellschaftliche Konventionen pfeifend – sorgten für kathartische Momente. Die Pantomimen förderten mit der Inszenierung historischer Szenen (Hermannsschlacht, Hereroaufstand) "die vaterländische Erziehung". Und die Wildtiere hielten in der Manege Einzug, weil die koloniale Expansion im 19. Jahrhundert Exoten zum Massenphänomen machte.

Kirschnick erzählt mit viel Liebe zum Detail. Sie erklärt die Entstehungsgeschichte des Ausrufs "Akrobat schööön!" ebenso wie die fast hysterische Bewunderung Jules Léotards, des "ersten fliegenden Menschen". Sie berichtet von Glanz und Gloria wie auch vom Niedergang und finsteren Zeiten, beispielsweise der Weltwirtschaftskrise oder dem Nationalsozialismus, in dem große jüdische Zirkusfamilien vertrieben und enteignet wurden. Und sie fängt das Phänomen Zirkus durch ihren originellen Buchaufbau wunderschön ein, und bietet nicht zuletzt weit über 100 durchweg grandiose Fotos und Illustrationen.

Ein beachtliches Manko allerdings hat das Buch: Es erzählt Geschichte, aber keine - wie der Titel besagt - Kulturgeschichte. Der Zirkus in Literatur, Theater oder Film findet zwar Erwähnung, aber nur an wenigen Stellen und keineswegs erschöpfend dargestellt. Hier gäbe es sehr viel mehr zu berichten.

Besprochen von Eva Hepper

Sylke Kirschnick: Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus
Theiss Verlag, Stuttgart 2012
192 Seiten, 39,95 Euro
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