Das Ostwestfalen-Dreieck

Die ganz besonderen Gesetze des Handballs

Der alte SCM-Star, Handballer Stefan Kretzschmar
Der alte SC-Magedburg-Star, Handballer Stefan Kretzschmar © dpa picture alliance / Jens Wolf
Von Gerd Michalek · 21.12.2014
Deutscher Spitzenhandball ist kein norddeutsches Vorrecht. Minden gegen Nettelstedt - das ist ein Klassiker, befand kürzlich wieder Handball-Experte Stefan Kretschmar. In Ostwestfalen, Deutschlands Traditionshandball-Region, spielen drei Bundesligisten.
Drei Handball-Bundesligisten nur jeweils 30 Kilometer von einander entfernt - da ist Rivalität einfach vorprogrammiert. Außerdem hat Spitzenhandball im nördlichsten Winkel von Nordrhein-Westfalen eine lange Tradition. Schon vor 40 Jahren wurde im 3000-Einwohner-Dorf Nettelstedt ein Stück deutscher Handballgeschichte geschrieben, erinnert sich der Ex-Handball-Bundestrainer und Manager, Horst Bredemeier aus Dankersen:
"Der ganz große deutsche Handballer der 60er und 70er Jahre, das war natürlich Herbert Lübking. Er war ein Ausnahmehandballer. Und Dankersen spielte um die Deutsche Meisterschaft. Ich kann mich noch sehr gut dran erinnern, im Weserstadion, ich glaube gegen Hochdorf, ich war selbst dabei. Und nach dem Spiel erklärte Lübking seinen Rücktritt von GWD Minden und den Wechsel zu Nettelstedt, die damals in der Kreisliga zählten. Ein unvorstellbarer Wechsel, der natürlich sehr hoch hat die Emotionen schlagen lassen."
Damals war der Weltklasse-Spieler Lübking 28 Jahre alt, hatte zwei Söhne und wollte dank des Hauptsponsors von Nettelstedt, eines Kleiderfabrikanten, seine berufliche Zukunft auf solide Füße stellen. Bei den Dankersen-Fans stieß das auf wenig Gegenliebe. Sie beschimpften ihn, es gab sogar Morddrohungen. Verständlich, dass der heute 73-Jährige nicht mehr über alle Einzelheiten berichten möchte: "Wir sind ja in der Kreisklasse angefangen, und das ging, würde ich sagen, ohne eine Klasse zweimal zu nehmen sieben Jahre hintereinander bis zur ersten Bundesliga. Das war damals 'ne Bombensache für Nettelstedt, Nettelstedt hatte alle noch nicht erlebt."
Dutzendweise Champions aus der Kleinstadt
Dann setzte Nettelstedt 1981 noch eins drauf und holte sogar den Europapokal der Pokalsieger. Logisch, dass die Rivalität mit Dankersen bis heute anhält. Vergleichbar mit der von Dort-und und Schalke im Ruhrgebietsfußball. Mit dem Unterschied, dass in Ostwestfalen Handball eben wichtiger ist. Jedes Dorf hat dafür extra seinen Verein. Das macht die Derbys brisant.
Ein weiblicher Fan: "Wenn wir in Minden spielen, müssen wir uns warm anziehen als Fan!"
"Es ist eine ganz merkwürdige Situation, Handball-Fans sind friedlich und gehen nett miteinander um, aber wenn es das Derby gibt zwischen Minden und Nettelstedt, kann es vorkommen, oder es ist bereits vorgekommen in den letzten Jahren, dass sich einige prügeln. Die sind dann allerdings weit über 50, es heißt dann „Du damals!“ Das ist einfach unglaublich."
Helge Olaf Käding, einst Pressesprecher beim TuS Nettelstedt-Lübbecke, kennt das seit vielen Jahren. Doch wenn zwei sich streiten, freut sich bekanntlich der Dritte. Man denke an den TBV Lemgo! Als Nettelstedt und Minden in den 1990er Jahren eher zu Hinterbänklern der Bundesliga wurden, zog der TBV locker an beiden Dorfvereinen vorbei: 1997 die erste Deutsche Meisterschaft für die 40.000-Einwohner-Stadt Lemgo. 2003 schließlich die vorerst beste Saison der Blau-Weißen: 34:0 Punkte in der Hinrunde, das ist bisher unerreicht in der stärksten Handball-Liga der Welt.
"Lemgo finde ich klasse, verlieren nicht, kann man immer mitjubeln."
Lemgo galt als taktisch besonders gewieft. Das Zauberwort hieß „schnelle Mitte“. Zu deutsch: Wenn die Lemgoer ein Tor kassierten, traten sie blitzschnell an den Mittelkreis zur Gegenattacke. Das funktionierte unter Lemgos Trainer Volker Mudrow in Perfektion. Und es machte Schule! Bald bekam die Provinzstadt Lemgo internationales Flair:
"Ein herzliches Dankeschön noch mal, das sind Eure Jungs, das sind Eure Vizeweltmeister!" (Applaus, Musik "We are the champions!")
2003 wurde Deutschland Vize-Weltmeister hinter Kroatien. Großen Anteil am Erfolg hatte damals Lemgos bärenstarker Kader: Über Jahre waren Markus Baur, Christian Schwarzer und der 2,11-Meter-lange Rückraum-Hüne Volker Zerbe aufeinander eingespielt. Sie hatten viele Automatismen mit Lemgos Rechts-Außen Florian Kermann und Torwart Christian Ramota entwickelt. So bildeten die glorreichen fünf das Rückgrat von Heiner Brandts Nationalmannschaft. Es entstand die inoffizielle In Marke „TBV Lemgo Deutschland“. Das hat bis heute eine gewisse Tradition. In diesem Jahr hat Lemgo vornehmlich auf deutsche Nachwuchsspieler zurückgegriffen. Sie bilden die jüngste Mannschaft der Liga. Auf die goldenen Jahre von Markus Bauer & Co blicken heutige Fans jedoch mit Wehmut. Aktuell sieht es für Lemgo nicht gut aus.
(Ausschnitt aus einem TV-Kommentar:) "Nur noch drei Tore Rückstand. (…) Der TBV verliert mit 27: 31 gegen Hannover-Burgdorf und einen Platz in der Tabelle. Lemgo steht damit auf dem vorletzten Platz."
Damit rangiert Lemgo einige Plätze hinter Nettelstedt und Dankersen in der Bundesliga. Da raufen sich junge Lemgo-Fans die Haare. Der TBV Lemgo muss sich mal mehr anstrengen, die nehmen das wie so ein Freundschaftsspiel, finde ich.
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